«In der Pandemie geh ich ins Altersheim»

Im November konnten wir hier lesen, wie eine Pandemie Veränderungen der Alterspflege einläutet und beschleunigt. Dass in der Stadt Zürich die Anmeldezahlen für die Gesundheitszentren für das Alter mit Fokus Betreuung und Pflege stabil geblieben sind und viele sich gerade wegen der Einschränkungen in den letzten beiden Jahren für einen Umzug in eine Institution entschieden haben, ist vor diesem Hintergrund vielleicht kontraintuitiv, aber sicher eine Betrachtung wert.

Land auf Land ab wird das absehbare und jetzt sogar beschleunigte Ende der traditionellen Altersheime herbeigeschrieben. Die «bad news» dominieren die Schlagzeilen und die öffentliche Meinung ist sich sicher – wer jetzt noch in ein Altersheim oder -zentrum zieht, hatte bestimmt einfach keine andere Wahl. Dass auch heute eine stabile Minderheit der älteren Bevölkerung selbstbestimmt die Entscheidung trifft, die eigene Wohnung zu verlassen und in ein Altersheim oder Alterszentrum zu ziehen, darf nicht sein. So wie auch viele andere Themen rund ums hohe Alter wie Abhängigkeit, Krankheit, Einsamkeit, Verlust und Tod medial kaum Beachtung finden.

Natürlich verändern sich die Bedürfnisse. Neue Generationen haben andere Wünsche und äussern diese vor allem auch selbstbewusster als noch ihre Eltern. Wer am Markt Erfolg haben will, muss entsprechend mit der Zeit gehen und seine Dienstleistungen anpassen. Das ist aber nichts Neues. Wer das Angebot im letzten Jahrtausend mit heute vergleicht, erkennt diverse Unterschiede: Die Essenszeiten sind flexibel, die Häuser für die Bewohnerinnen und Bewohner rund um die Uhr offen. Mehrbettzimmer wurden abgebaut, die Beratung, Betreuung und medizinischen Angebote wurden professionalisiert und die Spezialisierung der Abteilungen hat zugenommen. Die selbstbestimmte Gestaltung des Alltags und die personenzentrierte Begleitung haben nicht erst seit gestern auch in den gemeinschaftlichen Wohnformen einen hohen Stellenwert.

Der Bewohnermix macht’s aus

Die städtischen Alterszentren, die seit Mitte 2021 ein Teil der Gesundheitszentren für das Alter der Stadt Zürich sind, unterscheiden sich mit ihrem Angebot für Betreuung und Pflege ausserdem in einem wichtigen Punkt von der Mischform der Alters- und Pflegeheime, die in der Berichterstattung das typische Bild dominieren: Zum Zeitpunkt des Einzugs müssen die Bewohnerinnen und Bewohner die Einzugskriterien erfüllen, also in der Lage sein, sich räumlich und zeitlich orientieren und sozial integrieren zu können. Eine geringe Pflegebedürftigkeit ist kein Ausschlusskriterium, eine kognitive Einschränkung meistens schon. Die Folge davon liegt auf der Hand: Im Durchschnitt ist der Anteil von Personen mit einer kognitiven Einschränkung tiefer als in Institutionen ohne Einzugskriterien. Wer nach seinem Einzug dement wird, ist zu jenem Zeitpunkt bereits ein Teil der Gemeinschaft und die Akzeptanz der Einschränkungen und die gegenseitige Hilfsbereitschaft haben eine ganz andere Grundlage.

Stabile Anmeldezahlen

Die Anmeldezahlen fürs städtische Wohnen mit Betreuung und Pflege sind auch während der Pandemie nicht nur stabil geblieben, sondern lagen sogar leicht über dem langjährigen Durchschnitt. Ob sich das langfristig auch auf die Belegung auswirkt, muss sich noch zeigen und doch sind die Zahlen auf den ersten Blick erstaunlich. Die Gründe werden wie immer vielschichtig sein und es lohnt sich, das genauer anzuschauen. In der ersten Phase der Pandemie sind die Zahlen auch bei den Alterszentren eingebrochen, aber nur während des Lockdowns. Danach waren die Anmeldezahlen auf überdurchschnittlich hohem Niveau und die Gründe für einen Umzug in eine gemeinschaftliche Wohnform mit Betreuung und Pflege sind dieselben geblieben: Gemeinschaft, Sicherheit, Entlastung im Alltag, etc. Dem wichtigsten Grund, dem Wunsch nach häufigeren und vor allem selbstbestimmten sozialen Kontakten, scheint eine besondere Bedeutung zuzukommen. Die Isolation in der Pandemie hat das Problem hier nur verstärkt. Wer vorher schon nur noch selten unter die Leute gekommen ist, war neu ganz vom öffentlichen Leben ausgeschlossen.

So lange wie möglich zuhause?

Die meisten Menschen verdrängen und verschieben einen Umzug in eine Institution so lange bis es nicht mehr anders geht. Wer dann «muss», ist froh, dass ein professionelles Netz von Dienstleistern des Gesundheitssektors existiert und sich immer eine Lösung finden lässt.

Wer sich aber bewusst gegen den Verbleib zuhause und für einen Umzug in eine Institution entscheidet, war schon immer Teil einer Minderheit. Diese Minderheit gewichtet anders. Die Möglichkeit, jederzeit einen spontanen sozialen Austausch pflegen zu können und nicht auf den nächsten Besuch warten zu müssen, ist ihr wichtiger, als so lange wie irgend möglich zuhause zu bleiben. Die Gewissheit, dass beim Drücken auf den roten Knopf nicht irgendwer kommt und Hilfe leistet, sondern die Person von der Pflege, die man täglich grüsst, mit der man sich auch mal über Gott und die Welt unterhalten hat; keine unbekannte Person, die dann die Ambulanz ruft, die einen wiederum irgendwo hinbringt, diese Gewissheit wird höher gewichtet, als der Verbleib in der Nachbarschaft. Dass Essen in Gemeinschaft ist wichtiger, als die Möglichkeit sich jederzeit ein eigenes Menu zusammenstellen zu können. Entsprechend haben sich nach dem ersten Lockdown gerade wegen der Pandemie viele für einen Umzug entschieden und die Erfahrungen in den letzten Monaten auch explizit als Grund genannt.

Gute Noten während der Pandemie

All das bedeutet nicht, dass wir uns um die Belegung keine Sorgen machen müssen. Vor allem die Anpassung der Infrastruktur an die sich verändernden Bedürfnisse und der Ausbau der Intermediären Angebote sind entscheidend für die Lebensqualität der zukünftigen Hochbetagten. Unsere Erfahrungen in dieser Pandemie zeigen aber, dass auch die neuen Generationen selbstbestimmt ihre Grundbedürfnisse über den Verbleib in der angestammten Wohnung stellen – weil die Alternative für sie ganz persönlich mehr Selbstbestimmung ermöglicht.

Ein Beleg dafür, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der 23 städtischen Institutionen, welche Wohnen mit Betreuung und Pflege anbieten, mit der Lebensqualität und den Dienstleistungen dort auch während der Pandemie «zufrieden» bis «sehr zufrieden» waren, sind die Ergebnisse unserer wiederkehrenden Zufriedenheitsbefragung, die wir auch im 2021 gemeinsam mit dem Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich durchgeführt haben.

Der Kurzbericht der Bewohnerinnen- und Bewohnerbefragung 2021, Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich, steht hier zum Herunterladen bereit.

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