Wie eine Pandemie Veränderungen der Alterspflege einläutet und beschleunigt

senesuisse war schon länger klar: Mit dem Eintritt der Babyboomer in die «Strasse der Langzeitpflege» werden sich die Bedürfnisse für Wohnen und Pflege im Alter verändern. Diese Generation will so lange wie möglich selbstbestimmt leben. Mitten in die Überlegungen, wie sich die Branche für die kommenden Herausforderungen wappnen kann, kam Covid. Das hat der Branche ihre Stärken und Schwächen deutlich aufgezeigt. Wir als Branchenvertreter stellen fest, dass die Pandemie bei allen Anspruchsgruppen ihre Spuren hinterlassen hat. Es ist aber auch eine Chance für neue Ideen und Projekte, weil die Alters- und Pflegeheime sowie deren Systemrelevanz ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind.

Bis auf ein paar wenige Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker hätte es vor zwei Jahren niemand für möglich gehalten, dass eine Pandemie solch einschneidende Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben hat. Die Einschränkungen waren und sind noch immer allgegenwärtig, für uns alle spürbar. Anlässe und Reisen mussten abgesagt werden, Schutzmasken und Desinfektionsmittel begleiten uns im Alltag. Vieles, was vorher selbstverständlich war, gilt es nun zu planen oder kann wegen Lieferengpässen erst mit Verzögerung realisiert werden. Und etwas wurde wohl allen bewusst: Das Gleichgewicht von Sicherheit und Freiheit ist sehr fragil. Gerade bei hochbetagten und vulnerablen Menschen ist dieser Balanceakt bei deren Betreuung und Unterstützung seit Beginn der Pandemie ein ständiges Thema. Zwischen den einzelnen Betreiberinnen und Betreibern von Häusern der Langzeitpflege bestehen noch heute grosse Unterschiede, was die Umsetzungsmassnahmen anbelangt. Die Spannweite geht von einer sehr liberalen – mit Betonung der Freiheit – bis hin zu einer sehr restriktiven Haltung mit Betonung der Sicherheit. Die Nervosität bei den Institutionen ist gerade jetzt zu Beginn der kalten Jahreszeit und mit den ansteigenden Fallzahlen erneut spürbar. Ereignisse wie Ausbrüche und Impfdurchbrüche in den Altersinstitutionen führen dazu, dass Konzepte abermals angepasst und verschärft werden.

Föderalismus im besten und schlechtesten Sinne

Bund und Kantone haben die Branche der Alters- und Pflegeheime in den letzten Jahren ständig stärker reguliert. Einerseits macht der Bund seit langer Zeit klare Vorgaben, welche Betriebe finanziell unterstützt, welche Leistungen durch die Krankenversicherer mitbezahlt sowie zunehmend auch, wie die Qualität sichergestellt werden soll. Andererseits sind die Kantone seit jeher für Pflegeheimlisten zuständig und welche Häuser darin aufgenommen werden. Sie machen dazu verschiedene Vorgaben, etwa was die Personaldotation und die Infrastruktur anbelangt, bis hin zur Zimmergrösse und den Kostenrechnungen. Mit der Pandemie gerieten die unterschiedlichen Zuständigkeiten und Kompetenzen auf den Prüfstand. Der Bund probierte es mit blossen Empfehlungen, welche bei Nichteinhaltung aber zu schweren Sanktionen bis hin zu Strafanzeigen gegen Betriebsverantwortliche führten. Die Kantone versuchten sich in einer sinnvollen Einführung von Massnahmen. Dabei stellten wir als nationaler Branchenverband sehr grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen fest; fast so, als würde sich das Virus in jedem Kanton anders verhalten.

Es gibt noch einiges zu tun

Von einer einheitlichen gemeinsamen Suche nach dem bestmöglichen Weg sind die Kantone auch nach fast zwei Jahren immer noch weit entfernt. Zum Teil fehlt der direkte Draht zu den betroffenen Pflegeeinrichtungen, wobei es ebenfalls positive Beispiele zu vermelden gibt. So war etwa die regelmässige und gute Kommunikation im Kanton Appenzell Ausserrhoden mit regem telefonischem Austausch zwischen Betrieben und Kanton vorbildlich. Dadurch liessen sich die teilweise schnell ändernden Vorgaben rasch und gut umsetzen, ohne dass grosse Fragen offenblieben. Es gilt, hartnäckig zu bleiben und die Unterstützung der Behörden bei der Umsetzung von Massnahmen weiterhin einzufordern. Eine adäquate Kommunikation ist hierbei das A und O. Immer mehr Alters- und Pflegeheime sind dabei, ihre Kommunikation zu professionalisieren und die entsprechenden Instrumente aufzubauen. Ohne Pandemie hätten wir diese Entwicklung wahrscheinlich erst viel später beobachten können. Denn lange Zeit gab es in der Branche wenig Bedarf, Marketing und Kommunikation voranzutreiben, die Betten füllten sich nahezu von selbst.

Respekt vor dem Einzug ins Heim

In den klassischen Alters- und Pflegeheimen sind seit 2020 weniger Eintritte zu verzeichnen. Dies ist sicherlich eine Folge der Abschottungspolitik zu Beginn der Pandemie. Pflegebedürftige Menschen, aber auch ihre Angehörigen haben Bedenken, weil sie die eingeschränkten Freiheiten und das Risiko einer Ansteckung fürchten. Aufgrund der zahlreichen Todesfälle und der massiven Besuchsbeschränkungen wird der Heimeintritt hinausgeschoben. Selbstbestimmtes Wohnen und Leben wird vielfach als wichtiger eingestuft als Sicherheit und optimale Pflege und Betreuung, das Pflegeheim wird möglichst gemieden. Es wird Zeit brauchen, hier wieder das notwendige Vertrauen aufzubauen. Gleichzeitig müssen wir die bereits angedachten Modelle für das betreute Wohnen und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen vorantreiben. Zudem gilt es, die Alters- und Pflegeheime wieder stärker in die Gesellschaft zu integrieren und sie als Ort der sozialen Teilhabe zu positionieren.

Führungskräfte gefordert, für die Mitarbeitenden da zu sein

Die Mitarbeitenden aller Bereiche in unseren Häusern waren in den vergangenen zwei Jahren sehr gefordert. Gerade zu Beginn der Pandemie herrschte grosse Verunsicherung. Die Arbeitsbedingungen sind – gerade was die Hygienevorschriften anbelangt – noch anspruchsvoller geworden. Deren Umsetzung benötigt mehr Zeit als vorher und die Maskentragepflicht erschwert den Arbeitsalltag und die Kommunikation zusätzlich. Auch die emotionalen Herausforderungen sind nicht zu unterschätzen. Zuschauen zu müssen, wie innert kürzester Zeit viele Bewohnerinnen und Bewohner sterben, ist für das Personal äusserst belastend. Im Setting der Langzeitpflege besteht durch die teilweise langjährige Betreuung und Pflege eine intensive Bindung zwischen Bewohnenden und Mitarbeitenden. Die Monate mit psychischer und physischer Zusatzbelastung gingen und gehen an niemandem spurlos vorüber. Es wird Zeit brauchen, diese Erfahrungen zu verarbeiten. Die Heimleitungen, die Führungsverantwortlichen und senesuisse als Branchenverband werden noch lange Zeit gefordert sein, die Auswirkungen der Pandemie aufzufangen.

Die Auswirkungen der Pandemie auf die Langzeitpflege ist ebenfalls Thema der diesjährigen RVK-Tagung in Zürich. Oliver Hofmann ist Teil der Podiumsdiskussion in deren Rahmen. https://www.rvk.ch/bildung/tagung-langzeitpflege-2021

Alle

Kommentar Schreiben

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert