Coronavirus in Pflegeinstitutionen – Gedanken, Sorgen und Ängste Angehöriger

Wir leben in einer Zeit mit besonderen Herausforderungen für das soziale Miteinander. Unsere Empathie ist ein Hilfsmittel, um die Situation unseres Gegenübers nachzuempfinden. Aus Sicht der Profis in Pflegeinstitutionen heisst das, sich immer wieder in die Situation der Bewohnerinnen, Bewohner und Angehörigen zu versetzen, um auf die Bedürfnisse kompetent und professionell reagieren zu können. An dieser Stelle kann es hilfreich sein und unsere Empathie fördern, wenn wir den Angehörigen zuhören. Aus diesem Grund möchte ich zwei Angehörigen in diesem Beitrag die Möglichkeit geben, sich zu ihrem Erlebten in der Zeit der Pandemie und im Umgang mit den Beschränkungen zu äussern.

Die Situation der Tochter einer Bewohnerin:

Als meine Mutter vor bald zwei Jahren ins Altersheim kam, konnten wir ihr Zimmer einrichten, sie hat viele Blumenbilder gemalt, diese schmückten ihre Wände. Die Blumen, die wir ihr brachten, pflegte ich und die Kleider und Gegenstände ordnete ich als Tochter immer wieder. Mami ist Ordnung und Gemütlichkeit wichtig. Ich schaute, dass sie die Kleider je nach Saison im Schrank hat, die andern Sachen räumte ich weg.

Mein Vater besuchte sie mindestens einmal in der Woche. Meine Brüder und ich ebenfalls. So hatte sie mehrmals in der Woche Besuch. Mein Vater konnte mit ihr im Rollstuhl in den Garten, sie bestaunte die Blumen und freute sich über die Natur, die Flugzeuge am Himmel usw. Danach gingen sie zusammen ins Café. Mein Vater sieht auf einem Auge gar nicht und auf dem anderen auf eine Distanz von 1,5m verschwommen.

In dem Moment im März 2020 als uns mitgeteilt wurde, dass meine Mutter wegen Corona-Massnahmen nicht mehr besucht werden dürfe, war dies ein Schock für meinen Vater, der 91 Jahre alt und seit 60 Jahren mit meiner Mutter verheiratet ist. Er wohnt noch im Haus, half bei der Pflege meiner Mutter – bis es nicht mehr ging. Meine Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt seit eineinhalb Jahr im Altersheim.

Er konnte von einer Woche auf die nächste keine Besuche mehr bei ihr machen. Sie ist zunehmend dement, da ist telefonieren auch nicht möglich. Sie versteht nicht, warum sie keinen Besuch hat. Telefonieren war sinnlos, sie gab das Telefon der Pflegenden zurück. Schockiert und traurig nahm ich zur Kenntnis, dass wir uns vielleicht nie mehr sehen. Dieser Gedanke liess uns alle schier verzweifeln, insbesondere natürlich meinen Vater.

Die Pflegenden versicherten uns, dass sie gut zu ihr schauen, doch die Nähe, die ihr Mann ihr geben konnte, war nicht möglich und diese Ungewissheit ist schrecklich. Es wurde uns mitgeteilt, dass sie am Rollator laufe, doch ich wusste, dass sie wenig Zeit haben und sie so nicht mehr aus dem Haus kommt. Immer drinnen, meist im Rollstuhl und viel im Bett.

Ich durfte ihr zwar Blumen bringen, sie aber nicht sehen. Es war so traurig und ich war froh, dass wenigstens mein Vater noch zu Hause besucht werden konnte.

An Ostern rief ich an und fragte, ob ich ihr etwas vorbeibringen könne. Sie sagten mir, ich dürfe sie kurz im Garten sehen. Mein Vater und ich waren so dankbar, dass wir nach der langen Zeit endlich wieder einmal Kontakt haben durften. Es war das grösste Ostergeschenk für uns. Mir liefen die Tränen runter und ich dankte Gott für dieses Geschenk.

Ich rief sofort meinen Bruder an, der in der Nähe wohnt. Mein Bruder und mein Vater kamen beide sofort mit. Wir waren so dankbar, dass dies möglich war, konnten es fast nicht fassen. Mami war ganz anders, sie erkannte uns, doch sie verstand nicht, warum wir so weit weg sitzen, und warum wir nicht mit ihr spazieren gehen dürfen. Sie hatte fast keine Kraft mehr, um zu stehen.

Die Pflege musste gerufen werden, da sie aufs WC musste, dies habe ich zuvor immer selber gemacht.

Zwei Wochen später war alles wieder vorbei. Ich bekam die Information, dass wir Mami nicht mehr besuchen dürfen. Traurig doch mit der Hoffnung, dass sich bald alles ändert, warteten wir wieder.

Dann durften wir sie wieder sehen – hinter der Plexiglasscheibe. Sie verstand uns nicht, sie fragte, warum wir so weit weg sind, warum wir das vor dem Mund haben. «Nimm das weg», sagte sie. Bilder ihrer Enkel konnte ich ihr im Natel nicht zeigen – es war zu weit weg. Mein Vater sah sie nicht und sie verstanden einander nicht. So war der Besuch gar nicht sinnvoll und für niemanden ein Gewinn.  

Keine Umarmung, keine Gespräche, nur anschauen im Nebel, ohne dass das Gesagte verstanden wurde. Schrecklich!

Die Enkel dürfen sie nicht besuchen, ihre Grossenkelin sah sie noch nie. Sie wird sie nicht mehr erkennen. Vorher haben sie sie alle paar Wochen besucht.

Dies besserte dann kurz, die Scheibe wurde entfernt. Es war 2 Meter Distanz nötig, Kaffee trinken, spazieren mit Mundschutz war möglich und dann nach kurzer Zeit ging es wieder los, nur auf Voranmeldung am Vortag, in einem bestimmten Zeitfenster für 45 Minuten, nur mit Plexiglas, Mundschutz, kein spazieren im Garten. Keine Blumen, Gespräche schwierig.

Ich wohne 25 Kilometer entfernt, arbeite in der Pflege, weiss also auf was ich achten muss, trotzdem darf ich nicht in ihre Nähe. Sie kann fast nicht mehr selber trinken, ihre Hände zittern, ich darf ihr nicht helfen.

Soll das so weitergehen? Das ist nicht lebenswert. Seit März durften wir nie in ihr Zimmer. Keine Umarmung. Ich habe Freundinnen, deren Mutter in der Zeit starben. Nicht an Corona, sondern an Einsamkeit, Harnwegsinfekt – keine Besuche möglich, erst als sie im Sterben lag, durfte sie besucht werden, sie starb nach 3 Tagen. Vor Corona hatte sie alle Tage Besuch.

Diese Menschen brauchen Nähe, es sind ihre letzten Tage ihres Lebens, Isolation ist so schlimm und die Sorge als Angehöriger unermesslich gross.

Ich wünsche mir nichts mehr, als meiner Mutter die Zeit, die ihr noch bleibt, so angenehm wie möglich zu gestalten. Mit ihr zusammen zu sein. Dies wünsche ich mir auch für meinen Vater. Sie zu umarmen, zu singen, das Schöne mit ihr zu teilen. Das, was eine demente herzliche Person braucht.

Die Situation und Einschätzung einer Partnerin eines Bewohners:

Ich erlaube mir einige Bemerkungen über die Befindlichkeit der Angehörigen während der Coronazeit:

Die unzähligen Informationsschreiben von der Direktion der Institutionen verwirrten in ihrer Scheinobjektivität, kühl verfasst, alles «zugunsten» der Bewohnerinnen und Bewohner. Eine Kultur der Angst wurde gepflegt. Der Passepartout mit Zugang ins Heim meines Partners wurde ohne Benachrichtigung gesperrt. Die zwölf Wochen Eingesperrtsein glichen einem Gefängnis, ohne sozialen Kontakt, ohne das Recht einen Juristen beizuziehen. Die eingerichteten Zelte mit Plexiglastrennwänden benutzten wir nie, weil sie noch mehr an ein Gefängnis erinnerten. Ich selbst durfte meinen Partner nicht zum Arzt begleiten, aber ein unerfahrener «Schneusel» vom Zivildienst durfte das. Mein Partner verweigertes das und kam ein weiteres Mal nicht zu einer ärztlichen Untersuchung. Ein unerlaubter Spaziergang wurde mit 10 Tage Quarantäne im Zimmer bestraft. Mein Künstlerpartner hatte einen Auftrag – er konnte ihn nicht annehmen und nicht begleiten. 

Wir fragten uns immer wieder, wie schützt denn das Personal, das von aussen kommt, die Bewohnerinnen und Bewohner? Wie kommt man dazu, die alten Menschen zur Risikogruppe zu diskriminieren? Die Freiheitsberaubung veranlasste uns, viel über den Kommunismus und Nationalsozialismus zu lesen. Die meisten Briefe an die zuständigen Behörden blieben unbeantwortet, was unwürdig ist. 

Fazit: Zum ersten Mal nach 50 Jahren enger Freundschaft haben wir eine derart traurige Zwangstrennung erlebt und sie hat eine depressive Lähmung beibehalten und geholfen, gerne zu sterben.

Als freiwillige Mitarbeiterin, seit zehn Jahren, weiss ich was die kleinen Dinge zur Lebensqualität der alten Menschen beitragen können. 

Und erbarmungswürdig war die Leitung, die all die Weisungen der Stadt, des Kantons – oder Europa befolgen musste.

Vielleicht helfen diese Stichworte auch die Seite der Angehörigen zu verstehen und in den Massnahmen zu berücksichtigen.

Auch wenn wir bedenken, dass dies zwei ganz individuelle, von Angehörigen selbst verfasste Stellungnahmen sind, lassen sie sich ganz sicher auf viele andere Situationen übertragen und geben uns einen Eindruck, wie diese Menschen unter den notwendigen Beschränkungen leiden. Zu guter Letzt sollen sie uns alle aufrütteln, empathisch und verständnisvoll zu sein und gute Wege zur Gewährung von Sicherheit und Freiheit miteinander zu suchen und dann auch zu gehen.

Weiterführende Links

Verlinkung auf Teil 1 von 3 (Miteinander und Füreinander in Pflegeinstitutionen)

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