Miteinander und Füreinander in Pflegeinstitutionen

Der Schritt, einen Angehörigen ins Alters- oder Pflegeheim zu geben, ist für alle Beteiligten schwierig. Nicht nur für den alten Menschen, sondern auch für seine Angehörigen ist das mit vielen Herausforderungen verbunden, denn auch ihr Leben wird verändert. Und gerade jetzt, in einer Zeit, in der die Angehörigen nicht mehr in die Pflegeinstitutionen durften oder der Besuch nur unter besonderen Auflagen möglich ist, entstehen für Bewohnerinnen und Bewohner, Angehörige aber auch Mitarbeitende besondere Herausforderungen.

Wenn das Miteinander im Dreieck Bewohner, Angehörige und Pflegende gut funktioniert, kann das eine wichtige Erleichterung sein. Aber nicht in allen Fällen läuft es so reibungslos wie es sich alle Beteiligten wünschen. Immer wieder kommt es auch im neuen Zuhause zu Missverständnissen und Konflikten. Warum ist das so und was kann man möglicherweise für eine bessere Zusammenarbeit tun?

Eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit, ein guter Austausch sind in einer Pflegeinstitution von zentraler Bedeutung. Zu einer guten Begleitung und Betreuung von Menschen im Alters- oder Pflegeheim gehört die Zusammenarbeit mit den Angehörigen unabdingbar dazu. Angehörige und Mitarbeitende haben letztlich dasselbe Ziel. Alle möchten ein möglichst hohes Wohlbefinden und eine gute Lebensqualität für den alten Menschen erzielen, aber das erreicht man nur gemeinsam.

Konstellationen und Bedingungen

Der Alltag zeigt, dass diese Zusammenarbeit nicht immer ganz reibungslos funktioniert. Dabei spielen diverse Faktoren eine Rolle. Die Gruppe der Angehörigen ist sehr heterogen und somit bringen viele unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Erwartungen mit in die Institution. Angehörige unterscheiden sich in Bezug auf ihr eigenes Alter, und den Verwandtschaftsgrad. Auch die Beziehungsqualität der gelebten Beziehung schlägt sich in den Erwartungen an die Mitarbeitenden nieder.

Aber nicht nur die Angehörigen unterscheiden sich, auch die Pflegeinstitutionen und die Teams können sehr unterschiedlich sein. Grenzen und Möglichkeiten, Haltungen und Engagement sind keineswegs überall gleich – auch wenn alle unter demselben Leitbild arbeiten.

Selbst unter den Pflegenden ist nicht in jedem Fall klar, was nun gute Pflege und Betreuung in welchem Fall heissen kann und wie man diese im Alltag umsetzt.

Es gibt also unendlich viele verschiedene Konstellationen und Bedingungen, welche die Erwartungen der Angehörigen an das Alters- oder Pflegeheim und auch die Erwartungen der Mitarbeitenden an die Angehörigen mitbestimmen und die Zusammenarbeit beeinflussen – positiv oder negativ.

Unterschiedliche Perspektiven

Wenn es dabei zu echten Konflikten kommt, liegt es neben vielen anderen Faktoren häufig daran, dass hier zwei Systeme aufeinandertreffen, die einer komplett anderen Logik folgen. Aus der Perspektive der Pflegenden ist die Betreuung und Pflege der Bewohnerin oder des Bewohners ein Teil der Arbeit, die sie zu bewältigen haben. Nebst der Pflege der Bewohnerinnen und Bewohner fallen diverse administrative Arbeiten an. Je geringer nun die Ressourcen sind, desto mehr tritt der Einzelne mit seinen ganz individuellen Bedürfnissen in den Hintergrund.

Ganz anders ist die Perspektive der Angehörigen: Für sie ist und bleibt der einzelne Bewohner – also der konkrete Angehörige – die zentrale und wichtigste Person in der Institution. Die Wahrnehmung der individuellen Bedürfnisse und die individuelle Betreuung und Pflege stehen hier im Vordergrund. Das Verständnis für die jeweils andere Seite fehlt dann manchmal – jeder schaut durch seine eigene Brille und erwartet vom anderen verstanden zu werden.

Beziehungen proaktiv gestalten

Die Zusammenarbeit mit Angehörigen ist aus meiner Sicht eine Form der Beziehungsarbeit – eine Partnerschaft, die beiden Beziehungspartnern ein gewisses Engagement abverlangt. Die Institution darf nicht reduziert werden auf eine gesellschaftliche Institution, die dem Individuum die Belastung abnimmt. Gleichermassen dürfen Angehörige nicht nur als nützliche Informationspartner für das Heim gesehen werden. Diese Beziehungen müssen proaktiv gestaltet und ausbalanciert werden. Nur so bekommen Angehörige den Platz, der ihnen als wichtige Beziehungspartner der Bewohnerinnen und Bewohner zusteht. Zur Gestaltung dieser Partnerschaft braucht es einen guten und transparenten Informationsaustausch. Schon zu Beginn müssen die Verantwortungsbereiche, vor allem aber die gegenseitigen Erwartungen geklärt werden. Und noch mal: Hier sind immer beide Parteien gleichermaßen gefragt und die Begegnungen müssen jederzeit auf Augenhöhe stattfinden.

Zusammenarbeit mit Angehörigen in Zeiten von Corona

Die aktuelle Situation rund um die COVID-19-Pandemie hat auch die Pflegeinstitutionen nicht verschont und die steigenden Fallzahlen in der Bevölkerung lassen doch etwas Unruhe in Bezug auf den Herbst und Winter spüren.

Zum Schutz aller gab es vielerorts ein Besuchsverbot oder zumindest gravierende Besuchseinschränkungen. Das hatte und hat Konsequenzen für alle drei Anspruchsgruppen einer Pflegeinstitution.

Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern finden wir grosse Unterschiede in der Pflegebedürftigkeit und auch in den Kompetenzen, das Warum der neuen Situation zu verstehen. Daraus ergibt sich, dass in einem Pflegezentrum viele Menschen leben, die grosse Schwierigkeiten haben, die neuen Regeln einzuhalten oder die diese gar laufend vergessen. Der Tagesablauf ist für viele verändert, weil wichtige liebgewonnene Gewohnheiten wie Besuche oder Aktivitäten und grössere Veranstaltungen nicht möglich sind. Der reduzierte Kontakt in der Institution, aber vor allem auch nach aussen ist bedrückend für die Bewohnerinnen und Bewohner. Bei Unverständnis der gesamten Lage erhöht sich damit verständlicherweise das Gefühl, abgeschoben und abgeschottet zu sein. Die logische menschliche Konsequenz aus dem Erlebten ist ein erhöhtes Mass an Aufmerksamkeit und Fürsorge durch die Mitarbeitenden.

Information und Fürsorge

Die Angehörigen, die nun einfach nicht mehr kommen durften, stehen vor ganz anderen Herausforderungen. Darunter gibt es unzählige Menschen, die grundsätzlich besorgt darüber sind, ob ihr geliebtes Familienmitglied im Heim denn auch gut versorgt wird – diese Trennung erschwert das Ganze natürlich enorm. Vor allem Menschen mit wenig Vertrauen in andere müssen sich plötzlich einfach darauf verlassen, dass Vater, Mutter oder Partner gut betreut wird. Das ist in Krisenzeiten, in denen man mit seinen Liebesten noch einmal enger zusammenrückt, besonders schwer. Nicht selten sind diese Situationen begleitet von grossen Schuldgefühlen, einem schlechten Gewissen und von der Angst, der alte Mensch könnte meinen, man habe ihn verlassen. Zudem strukturiert der tägliche Besuch für zu Hause lebenden Ehepartner oft den Alltag – das Heim ist für viele zum Ort der Begegnung geworden. Auf diesen Besuch verzichten zu müssen, bedeutet einen zusätzlichen Verlust, nicht zuletzt dann auch einen Verlust einer wichtigen Aufgabe in ihrem Leben. Die grösste Herausforderung besteht aber wohl in der Angst, man werde einander möglicherweise nicht wiedersehen. Aus all dem resultiert wie selbstverständlich, dass auch die Angehörigen viel mehr Aufmerksamkeit, Information und auch Fürsorge nötig haben als vor Eintritt der Pandemie.

Mitarbeitende: verantwortlich und selber betroffen

Der dritte Partner im Bunde sind die Mitarbeitenden der Institutionen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, unter den neuen Bedingungen den Alltag so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Sie sind dafür verantwortlich, die Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen und müssen helfen, Regeln einzuhalten, die das Gegenüber nicht versteht oder immer wieder vergisst. In der Folge müssen sie immer wieder ermahnen und auch immer wieder enttäuschen. Zusammengefasst: Sie müssen dem erhöhten Pflege- und Betreuungsbedarf Rechnung tragen. Neben den Bewohnerinnen und Bewohnern gibt es aber eben auch die Angehörigen. Diese müssen auf dem Laufenden gehalten werden. Man muss dafür besorgt sein, dass das Vertrauen nicht verloren geht. Dazu gehört ein stetiges Erklären, dass man Verständnis hat, aber keine oder nur definierte Ausnahmen machen darf. Die Kritik, die darauf folgt, muss kompetent entgegengenommen und ausgehalten werden.

Aber die Mitarbeitenden sind ja nicht nur Mitarbeitende, sondern selbst auch von dieser Krise betroffen und auch nur Menschen. Sie haben vielleicht selbst Angst vor einer Ansteckung, vor einer Ansteckung der Bewohnerinnen und Bewohner oder in der eigenen Familie. Auch sie durften an freien Tagen ihre Angehörigen in Institutionen nicht besuchen.

Wenn man also die Befindlichkeiten und Bedürfnisse aller in den Blick nimmt, wird deutlich, dass alle drei Personengruppen durch COVID-19 vor grossen Herausforderungen standen und stehen. Es braucht Verständnis und Geduld, vor allem zwischen Angehörigen und Mitarbeitenden. Hilfreich wäre auch eine Form von Kredit oder sogenannten Vorschusslorbeeren von Seiten der Angehörigen.

Vertrauen schaffen

Von Seiten der Mitarbeitenden ist eine offene und klare proaktive Information von zentraler Bedeutung. Hier reicht es nicht, die Anrufe der Angehörigen höflich entgegenzunehmen. Es braucht das Bewusstsein, dass ein kurzer proaktiver Anruf mit der Information, dass soweit alles ok ist, viel bewirken kann. «No news is good news» reicht in dieser Situation nicht aus. Zum Wohle der Bewohnerinnen und Bewohner ist Kreativität gefordert. Angehörige können Karten oder Briefe schreiben, Päckchen senden oder Kontakt über neue Medien pflegen. Schon zu Beginn waren viele Institutionen kreativ, haben zum Beispiel Besuchsnischen mit Telefon oder aber Glücksbäume und Sorgenfresser eingerichtet. Das sind wunderbare Aktionen in einer so schweren Zeit. Nur wurde darüber zu wenig gesprochen und zu wenig berichtet. Das sind Vertrauen schaffende Elemente und diese sollten neben all den Regeln eben auch an die Öffentlichkeit.

Sind wir uns doch bewusst, wir sitzen in dieser Krise alle im gleichen Boot und müssen aber, wenn wir das gut überstehen wollen, auch in die gleiche Richtung rudern – zum Wohle und Schutz der Hilfs- und Pflegebedürftigen. Denken wir immer daran, dass in Alters- und Pflegeheimen viele verschiedene Menschen ganz unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Erwartungen aufeinander stossen – haben wir Respekt vor der Situation und den Gefühlen des anderen und schlüpfen immer wieder mal in die Schuhe des Anderen.

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Kommentar

Guten Tag,
als Mitarbeitende in einer Senioreneirichtung kann ich diese Sichtweise und das beschriebene Vorgehen nur begrüssen. Es schafft Transparenz und gibt allen Beteiligten Sicherheit in einer neuen Lebenssituation.

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