Vulnerabilität im Alter

In der sozialen Altersarbeit in der Schweiz hat der Begriff der „Vulnerabilität“ in den letzten Jahren eine immer grössere Beachtung gefunden. Der Leistungsvertrag des Bundes verpflichtet die Stiftung Pro Senectute Schweiz seit 2010, ihre Aufgaben unter besonderer Berücksichtigung von „vulnerablen Zielgruppen“ wahrzunehmen. Auch der Stadtärztliche Dienst der Stadt Zürich will mittels soziomedizinischer Daten „allenfalls geänderte Gesundheitsbedürfnisse von vulnerablen Bevölkerungsgruppen“ erkennen und entsprechende Anpassungen medizinischer Leistungen treffen. Was aber ist genau unter vulnerablen Gruppen, allgemeiner unter „Vulnerabilität“ zu verstehen?

Vulnerabilität bezeichnet allgemein eine Verletzlichkeit durch bestimmte Herausforderungen oder Gefahren. Sie kann sich auf biologische, psychische, soziale, kulturelle oder technische Systeme beziehen, ist also nicht a priori auf Menschen oder gar ältere Menschen begrenzt. Von Vulnerabilität wird gesprochen, wenn ein Zustand, häufig ein dynamisch geregelter Gleichgewichtszustand, als für ungünstige Veränderungen anfällig erscheint.

Resilienz ist der direkte Gegenbegriff zu Vulnerabilität, nämlich die Fähigkeit von Systemen, „widerständige, strukturstabilisierende, regenerative Reaktionen auf Gefährdungen oder Schädigungen“ (Bürkner, 2010, S. 6) aktivieren zu können. Resilienz bezeichnet demnach eine Widerstands- und Anpassungsfähigkeit, die es einem (technischen, biologischen, sozialen oder kulturellen) System, auch einem menschlichen Individuum, erlaubt, seine Stabilität (Struktur, Funktionsfähigkeit, Gesundheit etc.) selbst bei widrigen Ereignissen oder Umständen aufrecht zu erhalten oder rasch wieder herzustellen; Belastungen prallen quasi vom System ab.

Fachliche Perspektiven

Im Kontext der Vulnerabilität alter Menschen sind insbesondere psychologische, medizinische und soziologische Bezüge relevant. In der Psychologie bezeichnet Vulnerabilität eine individuelle Prädisposition, eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen der Person-Umwelt-Beziehungen, die das Auftreten einer Störung oder einer Krankheit begünstigt, wenn das Individuum bestimmten Reizen oder Umständen ausgesetzt ist.

In der Medizin wird statt von Vulnerabilität meist von Frailty (Gebrechlichkeit) gesprochen. Im geriatrischen Kontext bedeutet Frailty „die Verletzlichkeit (hoch)betagter Menschen gegenüber endogenen und v.a. exogenen Stressoren, die ein fein ausbalanciertes – aber eben fragiles – System zum Kippen bringen können“ (Sieber, 2014, S. 84).

In der Soziologie ist (soziale) Vulnerabilität eine Verwundbarkeit des sozialen Status und sozialer Beziehungen, die sich aus einer bedrohten Stabilität des Lebensstandards ergibt. Angelehnt an Bourdieus (1983) „Kapital“-Konzept kann Vulnerabilität aus einem Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital resultieren, die durch eine Abnahme des körperlichen „Kapitals“ bzw. körperlicher Ressourcen im Übergang vom „autonomen“ zum „fragilen“ Rentenalter akzentuiert wird (Gasser, Knöpfel & Seifert, 2015). „Kapital“ ist dabei als die Gesamtheit der für das jeweilige Individuum zugänglichen, verfügbaren Ressourcen zu verstehen.

Ein theoretischer Rahmen für Vulnerabilität im Alter

Einen konkreten theoretischen Rahmen für Vulnerabilität im Alter haben Schröder-Butterfill und Marianti (2006) vorgelegt. Ihnen zufolge setzt sich Vulnerabilität zusammen aus dem Risiko einer Person, einer Gefahr ausgesetzt zu werden, dem Risiko, dass sich die Gefahr realisiert, und dem Risiko, sich gegen die Gefahr nicht verteidigen zu können. Dies ist schematisch in der oben stehenden Abbildung veranschaulicht. Dieses Schema ist insbesondere nützlich, wenn es nicht nur um die Beschreibung einer allgemeinen, unspezifischen Verletzlichkeit aufgrund ungünstiger Umstände geht, sondern wenn ganz bestimmte „Outcomes“ vermieden und Interventionsmöglichkeiten entwickelt werden sollen.

Mit „Gefahren“ sind hier primär Umstände gemeint, die entweder typisch für das Leben im Alter sind (zum Beispiel gesundheitliche und Leistungs-Verluste, Verlust von Kontaktpartnern) oder gegenüber denen sich die Widerstandskraft im Alter häufig vermindert (etwa Verbrechen oder ökonomische Krisen).

Zur Klärung der Exposition werden häufig „vulnerable Gruppen“ bestimmt, basierend auf der Zuschreibung eines allgemeinen Mangels an Ressourcen oder Widerstandskraft. Dazu werden meist die „üblichen Verdächtigen“ gezählt (Hochbetagte, Alleinstehende, Landbewohner, gering Gebildete, Frauen im Allgemeinen). In Studien wurde indessen festgestellt, dass solche Kategorien viel zu grob sind, um das Risiko einer Exposition gegenüber bestimmten Gefahren wesentlich zu erklären. Entscheidend sind nicht Gruppenzugehörigkeiten, sondern die spezifischen Bedingungen, die individuell sehr verschieden sein können.

Erst recht wird eine solche pauschale „Risikogruppen-Bestimmung“ durch individuell sehr unterschiedliche Coping-Möglichkeiten in Frage gestellt. Möglichkeiten und Kapazitäten, mit Herausforderungen und Gefahren fertig zu werden, sind insbesondere von individuellen Ressourcen, sozialen Netzwerken und einem formellen sozialen Schutz abhängig.

Individuelle Ressourcen sind etwa materielle Mittel, Bildung, Fertigkeiten und Gesundheit, aber auch persönliche Anpassungen und Anstrengungen zur Reduktion der Vulnerabilität. Psychische Ressourcen des Individuums gehören ebenfalls in diese Kategorie. Zu sozialen Netzwerken zählen die Familie, die häufig materielle, praktische und emotionale Unterstützung leistet, aber auch belastend oder – gerade durch eine zu grosse Hilfeleistung – kompetenzverringernd wirken kann. Informelle soziale Netzwerke wie Nachbarschaften oder Vereine können ebenfalls hilfreich sein, sind aber in der Regel weniger belastbar als familiale; auch bestehen sie nicht selten aus Personen, welche ähnliche Defizite aufweisen wie man selbst. Formelle Wohlfahrtseinrichtungen wie Sozialversicherungen, Gesundheits- und Sozialdienste sind wichtig, um solche Lücken zu füllen.

Fazit

Die Vielschichtigkeit des Konzepts der Vulnerabilität hat auch für die Gerontologie und die Altersarbeit den Vorteil, nicht nur ein Individuum und dessen Kompetenzen und Defizite, sondern sein ganzes näheres und weiteres Umfeld mit Angeboten, Ressourcen, Belastungen und Hindernissen hinsichtlich eines zu bestimmenden ungünstigen „Outcomes“ in den Blick zu nehmen. Dieser grundsätzliche Vorzug macht aber deutlich, dass es einen einfachen Kriterienkatalog für Vulnerabilität nicht geben kann; dass es nicht möglich ist, Vulnerabilität ohne jeweils differenzierenden Bezug auf spezifische individuelle Gefahren und positive oder negative Zielgrössen, schon gar nicht als eindimensionales Konstrukt, zu messen.

Gleichwohl erweist sich das Konzept als fruchtbar zur Bestimmung einer systemischen, fall- und problembezogenen Zielperspektive. Umweltanforderungen, externe und interne Ressourcen und deren Verhältnis zueinander können so reflektiert und differenziert erhoben und daraus adäquate Massnahmen abgeleitet werden.

Literatur

Bourdieu, P. (1983). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In R. Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband, S. 183–198). Göttingen.

Bürkner, H.-J. (2010). Vulnerabilität und Resilienz – Forschungsstand und sozialwissenschaftliche Untersuchungsperspektiven (Working Paper). Erkner: Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung IRS. Verfügbar unter: https://leibniz-irs.de/fileadmin/user_upload/IRS_Working_Paper/wp_vr.pdf.

Gasser, N., Knöpfel, C. & Seifert, K. (2015). Erst agil, dann fragil. Übergang vom «dritten» zum «vierten» Lebensalter bei vulnerablen Menschen. Zürich: Pro Senectute. Verfügbar unter: https://www.prosenectute.ch/de/fachwelt/publikationen/studien/erst-agil-dann-fragil.html.

Schröder-Butterfill, E. & Marianti, R. (2006). A framework for understanding old-age vulnerabilities. Ageing & Society, 26, 9–35.

Sieber, C. (2014). Frailty (Gebrechlichkeit). In J. Pantel, J. Schröder, C. Bollheimer & A. Kruse (Hrsg.), Praxishandbuch Altersmedizin: Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie (S. 84–93). Stuttgart: Kohlhammer.

Abbildung: Theoretischer Rahmen für das Verständnis von Vulnerabilität (Schröder-Butterfill & Marianti, 2006, S. 12)

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