Verzicht auf Essen und Trinken – ein selbstbestimmter Tod ohne Leid?

Der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken in der terminalen Lebensphase verspricht meist einen guten Sterbeprozess – vor allem bei gleichzeitiger Palliativpflege. Gerade für unheilbar kranke Menschen kann das eine Alternative zum begleiteten Suizid sein.

In meiner Zeit als verantwortlicher Arzt der Pflegezentren der Stadt Zürich, und dabei zeitweise auch für einzelne Pflegezentren ärztlich direkt Verantwortlicher, begleitete ich im Verlauf der Jahre viele gebrechliche und oft demente Menschen beim Sterben. Dabei fiel mir auf, dass Bewohnerinnen und Bewohner in ihrer letzten Lebensphase immer weniger assen und tranken, aber kaum je über Durst klagten. Vielmehr war es für sie mühsam und oft lästig, wenn sie wiederholt zum Trinken aufgefordert wurden. Das beobachtete ich auch beim rein palliativen Betreuungskonzept.

Deshalb war es praktisch nie nötig, in der letzten Lebensphase künstlich Flüssigkeit zuzuführen – beispielsweise mittels subkutaner Infusion – weil Betroffene über Durst klagten. Wenn, dann waren es eher die Angehörigen, die Bedenken äusserten, weil sie befürchteten, ihre Angehörigen könnten verdursten. Dies, obwohl diese offensichtlich dank guter Mundpflege beschwerdefrei und friedlich ihrem Lebensende entgegensahen.

Immer wieder bestätigte sich, dass ein Sterben an einer Lungenentzündung ein sehr gutes Sterben ist, auch ohne jede Flüssigkeitszufuhr in dieser letzten Lebenszeit. Das können wir übrigens zu Zeiten von Covid-19 auch allen Angehörigen von Patientinnen und Patienten mit einer palliativen Betreuungsstrategie beruhigend versichern.

Studie zur Sterbequalität

Im Jahr 2004 wurden in einer führenden medizinischen Fachzeitschrift (The New England Journal of Medicine, Ausgabe Nr. 349, S. 259-65) die Resultate der «Oregon-Studie» publiziert. Die Studie vergleicht die Sterbequalität von Menschen, die mit Pentobarbital (wie bei EXIT) einen begleiteten Suizid begingen, mit solchen, die zur Beschleunigung ihres Sterbens an einer unheilbaren Krankheit wie metastasierendem Krebs oder neurologischer Erkrankung wie ALS bewusst auf Essen oder Trinken verzichteten. Dabei war das Leiden der Sterbefastenden etwas geringer als das der Menschen, die sich für einen begleiteten Suizid entschieden. Erstere zeigten einen viel ausgeprägteren inneren Frieden – so das Urteil der betreuenden Pflegeexpertinnen und -experten.

Seither beschäftige ich mich immer wieder mit diesem Thema, da diese wissenschaftliche Studie meine persönliche Erfahrung bestätigt, dass im Alter und bei einer unheilbaren Erkrankung das Sterben ohne Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr meist zu einem guten, beschwerdearmen Sterben verhilft.

Mögliche Nebenwirkungen

Natürlich gilt auch für den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), was für alle Behandlungen in der Medizin gilt: Es gibt mögliche Nebenwirkungen. Die wichtigste ist ein trockener Mund begleitet von einer unangenehmen Empfindung, die oft mit Durst verwechselt wird. Dies kann leicht mit regelmässiger guter Mundpflege vermieden werden, wie sie in den Pflegezentren der Stadt Zürich immer bei der Pflege Sterbender üblich ist. Eine zweite, nicht seltene Nebenwirkung von FVNF ist das Entstehen eines Delirs durch die Eindickung des Blutes mit teilweise ängstlicher Agitation oder Halluzinationen. Wie immer bei Delir kann dieses Risiko durch die Präsenz einer vertrauten Person und ruhigen Berührungen z. B. der Hand stark vermindert werden und mit leichter Sedierung, beispielsweise mit Beruhigungsmitteln oder Psychopharmaka, behandelt werden.

Selbstbestimmung oder Suizid?

Das Sterben mittels FVNF ist ein natürlicher Tod durch Dehydration bei einem Grundleiden und gilt juristisch nicht als Suizid. Der Tod tritt durchschnittlich innert zehn Tagen ein. Bei ausgeprägter Gebrechlichkeit tritt er innert kürzester Zeit ein, länger kann es bei Herzinsuffizienz mit Ödemen dauern oder bei nicht vollständigem Verzicht aufs Trinken.

Sterben, beschleunigt durch Verzicht auf Essen und Trinken, verspricht meist einen guten Sterbeprozess, vor allem wenn er gut mitmenschlich und palliativ-pflegerisch betreut wird, wie das in den Pflegezentren der Stadt Zürich Standard ist.

Im Gegensatz dazu gibt es einige Fallberichte über sehr belastende Einzelfälle von Sterbefasten bei nicht terminal kranken, noch nicht gebrechlichen, vitalen aber lebensmüden Menschen in anfänglich noch recht gutem Allgemeinzustand. Besonders wenn der Verzicht aufs Trinken nicht vollständig ist, kann in solchen Situationen ein vielwöchiger Leidensprozess die Folge sein.

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Praxis

Kommentar

Herzlichen Dank, lieber Albert Wettstein, für diesen gut geschriebenen, ebenso informierten wie informativen Blogbeitrag zu dem wichtigen Thema!

Danke Herr Dr. Wettstein. Dies ist der bisher einzige durch und durch sachliche Beitrag zum Thema Sterbefasten, der mir unter die Augen gekommen ist. Bisher habe ich nur Beiträge gelesen, welche einen letztendlich vom Sterbefasten abhalten wollen, die einen warnen vor unerträglichen Qualen, und einer will sogar weismachen, ein Sterben durch Sterbefasten könnte sich jahrelang dahinziehen.

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