Spuren hinterlassen

Bericht zum 7. Zürcher Palliative Care Symposium

Spuren hinterlassen – wie wichtig ist das für schwerkranke oder hochaltrige Menschen? Welche Art von Spuren können das sein? Welche Bedürfnisse und Wünsche haben Menschen in der letzten Lebensphase? Im Rahmen des Palliative Care Symposiums stellten am 6. Oktober 2022 Projektverantwortliche ihre Angebote rund um diese Fragen vor und Fachpersonen sprachen über ihre Erfahrungen.

„Alle wollen das doch: Spuren hinterlassen – in der Familie oder bei den Freunden, im Verein oder im beruflichen Umfeld. Wir Politiker der Stadt Zürich möchten es mit der Altersstrategie 2035 tun“, sagt Stadtrat Andreas Hauri in seiner Begrüßung. Die politisch Verantwortlichen setzten sich dafür ein, dass in der Stadt Zürich möglichst viele Menschen möglichst lange selbstbestimmt und würdevoll leben können, dass die dafür nötige Infrastruktur besteht, die nötigen Angebote realisiert und genügend Fachleute ausgebildet und im Beruf gehalten werden.

Gar nicht ganz sicher, ob sich alle Menschen bewusst damit beschäftigen, welche Spuren sie hinterlassen, waren sich die Fachpersonen im anschließenden Gespräch unter der Leitung von Moderatorin Lucia Zimmermann. „Viele unserer Bewohner*innen hinterlassen Spuren, ohne dass sie es bewusst wollen,“ sind sich Ralf Schiemer, Palliative Care-Experte im Kompetenzzentrum Pflege und Gesundheit, und Olaf Fritzen, Pflegeleiter im Gesundheitszentrum für das Alter Gehrenholz, einig. Nicht alle würden planen, wie sie in Erinnerung bleiben, meint Fritzen, und Sabine Wyss, Oberärztin im Gesundheitszentrum für das Alter Mattenhof, erlebt es ebenfalls öfters, dass sterbende Menschen noch unbedingt etwas (finanzielles, administratives) organisieren oder erledigen, als dass sie bewusst ein Zeugnis hinterlassen wollen. „Die Erinnerung ergibt sich, und es ist gut, wie sie sich ergibt.“ So drückt es wiederum Marcel Meier, Beauftragter Palliative Care im Mattenhof aus. Auch wer nicht bewusst eine schriftliche, auditive oder visuelle Erinnerung kreiert, hinterlasse Spuren, ergänzt der Betriebsleiter der Gesundheitszentren für das Alter Witikon und Riesbach und Vorstandsmitglied von PACE[1] Matthias Staub: oft erklärten Sterbende, dass ihre Kinder und Großkinder ihre hinterlassenen Spuren seien bzw. sich die Spuren in ihnen befinden. „In der letzten Lebensphase ändern sich die Werte der Menschen,“ sagt Staub, „Nähe, Zeit und Verbundenheit sind zentral, während Güter, Besitz und Prestige kaum eine Rolle spielen.“

„Lebensspiegel“ und „Hörschatz“

Trotz dieser Relativierungen: der Prozess, für seine nächsten Menschen eine bleibende Erinnerung zu kreieren, kann tröstend sein für sterbende Menschen – und ihre Angehörigen. Im Sinn von Dignity Therapy kann das Würdigen der eigenen Lebensgeschichte helfen, Ruhe und Frieden zu finden. Das zeigen die Projekte von Tony Styger und Gabriela Meissner. „Beim ‚Lebensspiegel‘ sind Prozess und Resultat wichtig“, erklärt Theologe und Seelsorger Styger, der Sterbenden hilft, ihre Lebensgeschichte zu verschriftlichen. Vornehmlich im Spital Wetzikon besucht der Projektleiter der Andreas Weber Stiftung Menschen in der letzten Lebensphase und spricht mit ihnen über ihr Leben. Was bleibt ihnen besonders in Erinnerung? Was ist ihnen gut gelungen? Aus dem aufgezeichneten Gespräch, bei dem die Krankheit nicht im Vordergrund steht, entsteht aus der Feder von Styger oder anderen Mitarbeitenden der Stiftung ein zehn- bis zwölfseitiges Heft. Diesen „Lebensspiegel“ können die Betroffenen ihren Angehörigen als Geschenk übergeben. „Das ist mein Leben“, hört Styger etwa von bewegten Porträtierten, wenn sie ihre eignen Erinnerungen lesen, und Angehörige finden Trost in der Zuversicht, dass ihre Nächsten ein erfülltes Leben hatten.

Bei Gabriela Meissners Angebot werden nicht schriftliche, sondern auditive Erinnerungen kreiert. Mit ihrer Kollegin Franziska von Grünigen und zwei weiteren Personen hat die Audiobiografin vor zwei Jahren den Verein „Hörschatz“ ins Leben gerufen: schwerkranke junge Mütter und Väter können ein professionelles Hörbuch erstellen und so ihren Kindern mit ihrer Stimme in Erinnerung bleiben. In begleiteten Aufnahmesessions zu Hause oder auf der Palliative Station erzählen sie Geschichten, persönliche Erinnerungen oder Anekdoten und formulieren Liebesbotschaften oder Erkenntnisse, die anschließend geschnitten und mit Lieblingsmusik hinterlegt werden. Das fertige in mehr oder weniger Kapitel unterteilte Hörbuch – je nach Gesundheitszustand des betroffenen Elternteils – erhalten die Kinder in Form eines USB-Sticks verpackt in einer herzförmigen Schatztruhe. „Nicht selten sehen wir bei Aufnahmen ungeahnte Kräfte von Schwerkranken“, erzählt Meissner, „indem sie aus ihrem Leben erzählen, würdigen sie es, und sie sehen, wie reichhaltig und erfüllt es war.“

(Letzte) Wünsche

Nicht von hinterlassenen Spuren, sondern (letzten) Wünschen sprechen Manuela Marchetti und Petar Sabovic. Was ist Menschen in der letzten Lebensphase wichtig? Welche Wünsche äußern sie? Marchetti, Psychologin im Mattenhof, nähert sich dem Thema aus theoretischer Perspektive. Was braucht es, damit es einem Menschen in der letzten Lebensphase möglichst gut geht? Eigentlich dasselbe wie für einen gesunden Menschen, der mitten im Leben steht: Neben seinen körperlichen müssen seine psychischen Grundbedürfnisse erfüllt sein: das Bedürfnis nach Bindung, nach Kontrolle und Selbstbestimmung, nach Bestätigung des Selbstwerts und Lustgewinn. Marchetti erlebt es beispielweise in ihrer Praxis oft, dass betagte Bewohner*innen erzählen, was sie alles gemeistert haben, oder dass sie in Haus und Küche helfen wollen. Dinge also, die ihren Selbstwert steigern. Oder sie wollen etwas Bestimmtes essen, einen bestimmten Ort besuchen, etwas Bestimmtes zum letzten Mal tun.

Dinge ein letztes Mal tun, Orte ein letztes Mal besuchen: dabei hilft Petar Sabovic, Präsident der Vereinigung „wunschambulanz.ch SAW“. Zusammen mit über 450 freiwilligen Rettungssanitäter*innen, Pflegefachkräften, Feuerwehrleuten, Polizist*innen oder Chauffeur*innen fährt er schwerkranke, nicht mehr mobile Menschen in einem extra dafür ausgerüsteten Ambulanzfahrzeug für ein letztes Mal an einen bestimmten Ort oder Anlass. Sie reisen an den Lieblingsplatz am Fluss, führen Menschen ein letztes Mal zusammen, zeigen jemandem bestimmte Tiere, ermöglichen ein letztes Bad in der Seemitte oder die Teilnahme an Festen – auch wenn dabei eine komplexe medizinische Versorgung nötig ist. „Oft äußern Menschen, die ans Bett gefesselt sind, einen letzten Wunsch, vielleicht nur beiläufig. Hören Sie gut zu“, rät Sabovic, „und melden Sie sich bei uns. Wir können fahren.“

Genau hinhören, Zeit schenken und Lebensgeschichten würdigen: Vielleicht lassen sich so die wichtigsten Aufgaben der Palliative Care (neben der medizinischen Versorgung) zusammenfassen. Auch wenn Heilung nicht mehr möglich ist, lindern geht (fast) immer.


[1] Palliative Care ergänzender Begleitdienst

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