Alle qualitätsorientierten Perspektiven im Sozial- und Gesundheitswesen fokussieren auf die Bedeutung eines erfüllten Lebens und die damit verbundene soziale Teilhabe der älteren Personen. Solche bedeutsamen Faktoren, welche die Lebensqualität im Alter repräsentieren sollen, sind in den Pflegequalitätssicherungen, wie gesetzlichen Rahmenbedingungen, Organisation und Gestaltungen der Pflege- und Betreuungsarbeit der Fachkräfte und der Assistenzkräfte, wiederzufinden.
Subjektive und soziale Wahrnehmung und Interpretation des Alter(n)s
Angelehnt an diese Aussagen der gesellschaftlichen Wahrnehmung stellt sich die Frage, ob die Lebensqualität bis ins hohe Alter durch die besondere Gestaltung der Pflege- und Betreuungsarbeit tatsächlich gewinnt? Ist es nicht bedeutsamer, den Bedürfnissen und Erwartungen der älteren Personen in ihrer sozialen Umwelt nachzugehen? Sollte dies nicht der Schlüssel für die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen sein? Ziel einer solchen Weiterentwicklung ist es, die vorhandene Netzarchitektur zu analysieren, um dann die Versorgungsmodelle, -konzepte und -strukturen für ältere Menschen modifizierend weiterzuentwickeln, zukunftsorientierte Ansätze zu unterstützen und vorhandene Pflegeangebote zu modernisieren.
Wirklichkeit, Selbstständigkeit und Autonomie der Person
Die vielfältige äußere Welt, die Wirklichkeit außerhalb des Organismus, existiert für das Individuum durch die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane. Unzählige Reize erreichen das menschliche Gehirn, welches in diesem «Wunderwerk» Empfindungen, Emotionen und Ideen konstruiert. Wirklichkeit wird somit zur individuellen Realität und kann nur von der Person selbst verstanden werden. Als intelligente, soziale Spezies sind Menschen auf ihre primäre Bindung und die Bildung von und Teilhabe an sozialen Gruppen angewiesen; die Interaktion mit der Umwelt ist immanent. Das bedeutet, dass es ohne primäre Bindungen jedem Menschen, unabhängig von seinem Alter, schwer fällt, sein Leben gut zu koordinieren und Problemsituationen zu bewältigen.
In der Gerontologie wird die Selbständigkeit eines Menschen als der Kern menschlicher Existenz verstanden. Die Selbständigkeit in diesem Sinn ist mit den individuellen Lebenszielen des Einzelnen im Umweltkontext definiert. Der Mensch ist ein soziales Wesen, welches sein Leben durch Gestaltung, Kreativität, Aktivität und sinnvolle Beschäftigung zu bereichern weiß.
Die Gerontologen Andreas Kruse und Eric Schmitt haben 1995 eine Forschung an 1092 Personen in verschiedenen Altersgruppen durchgeführt. Dabei haben sie die Selbständigkeit der Betroffenen in 23 Aktivitäten des Lebens überprüft. Sie kamen zum Ergebnis, dass sich drei Formen der Selbständigkeit unterscheiden lassen: die relative Selbständigkeit, der Hilfe- und der Pflegebedarf. Der Fokus der Untersuchung lag auf der Selbständigkeit in der Alltagsbewältigung, der Selbstbestimmtheit und der sozialen Interaktion und Kommunikation. Damit wurde der Verlust dieser Fähigkeiten in Verbindung mit Abhängigkeit, Fremdbestimmtheit und Verminderung der Lebensqualität gebracht (Kruse & Schmitt, 1995: 230).
Das bedeutet, dass die Bedrohung oder der Verlust dieser Kompetenzen auch die Bedrohung der menschlichen Würde, Intimität und Selbstachtung beinhaltet. Deshalb sollte dieser Kompetenzverlust im Mittelpunkt aller gerontologischen Pflege- und Betreuungshandlungen stehen, mit dem Ziel, den Grad der Abhängigkeit der betroffenen Menschen möglichst gering zu halten.
Akzeptanz, Respekt und Annahme sind der Kern zwischenmenschlicher Beziehungen
So liegt die Priorität darin, so lange wie möglich eigenständig und selbstverantwortlich agieren zu können. Diesbezüglich muss die Planung von Versorgungsstrukturen immer partizipativ, also im Zusammenarbeit mit Betroffenen und ihren Angehörigen, gestaltet werden. Die Herausforderung liegt im Bereich der Fähigkeiten- und Ressourcenförderung und deren Erhaltung, als Autonomieprinzip. Dessen Bedeutung liegt darin, dass der Mensch als ein selbstbestimmtes Wesen gesehen und akzeptiert wird. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Autonomie lässt erkennen, welcher enorme Anspruch an das Anforderungsprofil und an die Handlungskompetenz der Pflege- und Betreuungsakteure gestellt wird. Die gerontologische Arbeit, als zwischenmenschliches Geschehen betrachtet, im Kontext von Kommunikation, Interaktion, Wahrnehmung und konkreten Diversitäten, birgt ein großes Erwartungspotenzial. Hieraus versteht sich, dass der Umgang mit der Vielfältigkeit der Menschen in konkreten Situationen, besonders in den Bereichen der gerontologische Arbeit, immer eine empathische Komponente enthalten muss. Für das Tun und Handeln im Gesundheits- und Sozialwesen bedeutet es, vorurteilsfrei und wertschätzend den Menschen wahrzunehmen und auf gleicher Ebene mit ihm zu interagieren.
Soziale Interaktion nach Kitwood (2008) bedeutet, eine Person zu sein, in einer Welt zu leben und das Miteinander zu teilen. Hierbei liegt der Schwerpunkt in den Übermittlungen durch Andere, diese bedürfen einer Reflexion, Antizipation, Erwartung und Kreativität. Das bedeutet, wenn eine Person von der sozialen Umwelt ignoriert und von seiner Bindung isoliert wird, dann ist sie in ihrer Persönlichkeit eingeschränkt.
„Die soziale Natur des menschlichen Lebens hat einen weiteren Aspekt im Hinblick auf die Tatsache, dass wir uns als eine Spezies entwickelt haben, die für ein Leben in Gruppen von Angesicht zu Angesicht ausgelegt ist. Teil der Gruppe zu sein, war entscheidend für das Überleben, und in manchen Kulturen stellte der Ausschluss eine schwere Strafe dar.“ (Kitwood, 2008: 124)
Hierbei handelt es sich nicht nur um die Einzigartigkeit des Menschen und die Verkörperung der Person mit ihrer Individualität und Persönlichkeit, sondern im Kern um die zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit Akzeptanz, Respekt und Annahme einhergeht. In diesem Kontext wird deutlich: Um einem Menschen gerecht zu werden, bedarf es der vorurteilsfreien Wahrnehmung, des Respekts des Person-Seins und seiner Individualität. Bedrohung oder Verlust der persönlichen und sozialen Fähigkeiten, zum Beispiel durch eine Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit, ist zugleich auch eine Bedrohung für die menschliche Würde, Intimität und Persönlichkeit. Ergänzend zu dieser Aussage wird deutlich, dass die existentielle Sicherheit und die subjektiven Empfindungen des Individuum miteinander verbunden sind.
Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung des Alter(n)s
In Untersuchungen zum subjektiven Alternserleben (Kruse, 2017) wurde den Teilnehmern die Möglichkeit gegeben, ausführlich über erlebte Gewinne und Verluste des Alterns zu berichten. Die Ergebnissen zeigten, dass das eigene Altern gleichermaßen im Sinne von Gewinnen als auch von Verlusten erlebt wird. Die Verluste sind nicht zwingend als manifester, unveränderlicher Zustand zu betrachten, sondern eher als der Ausgangspunkt für individuelle Veränderungsstrategien, im Sinne einer Entwicklung. Die Analyse von subjektiven Ansichten des eigenen Alterns ist nach Kruse aus drei Gründen wichtig:
- Hinweise auf Gewinne und Verluste im Alter, die bei einer objektiven Analyse unentdeckt bleiben. Das Individuum selbst gewinnt unter der Bedingung einer ausreichend entwickelten Introspektionsfähigkeit ein Gefühl für seine Stärken und Schwächen wie auch für deren Verlauf im Alternsprozess.
- Korrektiv für Projektionen auf ältere Menschen, in welchem die partizipative Forschung und Praxis, die Einbeziehung älterer Menschen in die Konzeption und Umsetzung von Forschungs- oder Praxisstrategien, besondere Wirkung hat.
- Wie Ursula Lehr und Hans Thomae in ihren theoretischen und empirischen Beiträgen zur produktiven Anpassung an das Alter annahmen, ist die subjektive Deutung ein entscheidender vermittelnder Prozess zwischen der objektiv gegebenen Situation und dem Verhalten. Dabei müssen Motive, Werte, Einstellungen und Überzeugungen des Individuums in ihrem Einfluss auf die subjektive Bewertung der Situation berücksichtigt werden (Kruse, 2017).
In Bezug auf die Implikationen für das gerontologische Handelns lässt sich konstatieren: Wenn der Subjektivität und der individuellen Wahrnehmung eine hohe Wertigkeit zugeordnet wird, dann müssen die subjektiven Bedürfnisse des Individuums in allen Handlungen gerontologischer Interventionen die oberste Priorität haben. Dies kann nur gelingen, indem man die partizipative Forschung und Arbeit als wegweisend betrachtet.
Literaturverzeichnis
- Kitwood, Tom (2008). Der person-zentrierte Ansatz. Bern: Hans Huber.
- Kruse, Andreas & Schmitt, Eric (1995). Formen der Selbständigkeit in verschiedenen Altersgruppen: Empirische Analyse und Deskription der Aktivitätsprofile. Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 1995, S. 227–236.
- Kruse, Andreas & Wahl, Hans-Werner (2010). Zukunft Altern: Individuelle und gesellschaftliche Weichenstellungen. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
- Kruse, Andreas, Rentsch, Thomas & Zimmermann, Harm-Peer (2013). Altern in unserer Zeit: Späte Lebensphasen zwischen Vitalität und Endlichkeit. Frankfurt: Campus.
- Kruse, Andreas (2017). Lebensphase hohes Alter: Verletzlichkeit und Reife. Berlin: Springer.
Jasenka Wieland ist Altenpflegerin / gerontopsychiatrische Fachkraft, Fachwirtin im Gesundheitswesen, Pflegedienstleiterin, Berufspädagogin im Gesundheitswesen (BA) und Gerontologin in Ausbildung (MSc).