Palliativpflege ja, Palliativdiktat nein!

Ist eine Patientenverfügung gültig, die für den Fall einer schweren Demenz das Eingeben von Nahrung durch Dritte untersagt? Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio vertritt den Standpunkt, das Angebot von Nahrung und Flüssigkeit auf natürlichem Wege sei keine medizinische Massnahme, sondern Bestandteil der Basispflege, und könne daher nicht mittels Vorausverfügung abgelehnt werden. Der Autor dieses Beitrags, der ehemalige Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein, widerspricht dieser Argumentation.

Im neuen Schweizer Zivilgesetzbuch (ZGB) ist die Pflege generell zwar nicht geregelt, aber im Abschnitt «Aufenthalt in Pflegeeinrichtungen», Art. 382, Abs. 2 und 3, steht: «Bei der Festlegung der von der Einrichtung zu erbringenden Leistungen werden die Wünsche der betroffenen Person so weit wie möglich berücksichtigt. Die Zuständigkeit […] richtet sich sinngemäss nach den Bestimmungen […] bei medizinischen Massnahmen.»

Dazu schreibt Art. 370 vor: «Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.»

Verfügungsrecht zu Basispflege und Nahrungseingabe

Meiner Ansicht nach gehört die sogenannte «Basispflege» eindeutig zu den Leistungen, für welche sich die Institutionen so weit wie möglich nach den Wünschen der betroffenen Person zu richten haben. Die natürliche Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit muss sich also soweit möglich auch an den Wünschen der Betroffenen orientieren und untersteht denselben Vertretungsregeln wie ärztlich angeordnete Therapien; somit hat sie sich ebenso nach den Bestimmungen von Patientenverfügungen zu richten.

Die Behauptung, der Verzicht auf das Eingeben von Nahrung oder Flüssigkeit sei nicht möglich, ist unsinnig. Professor Borasio schreibt in seinem Buch «Über das Sterben» selber, der Verzicht auf Essen und Trinken führe gemäss einer sorgfältigen Studie zu einem sehr friedlichen Sterben. Deshalb ist im Lichte der genannten gesetzlichen Grundlagen nicht einzusehen, dass ich nicht – für den Fall einer so schweren Demenz, dass ich mir nicht mehr selber genügend Nahrung und oder Flüssigkeit zuführen kann – eine rechtsgültige Patientenverfügung erlassen könnte, die untersagt, mir Nahrung und Flüssigkeit einzugeben.

Selbstbestimmung trotz Demenz?

Eine andere Frage ist jedoch, ob der schwer demenzkranke Mensch auch aktuell in der Lage ist, seinen Willen rechtsgültig auszudrücken, das heisst, ob er einverstanden sei, dass ihm Nahrung eingelöffelt oder Flüssigkeit eingeflösst wird. In einem auch von mir häufig zitierten Entscheid hat nämlich die nationale Ethikkommission festgehalten, dass das Zusammenkneifen der Lippen beim Versuch, Nahrung oder Flüssigkeit einzugeben, selbst bei schwerst demenzkranken Menschen als rechtsgültige Nahrungsverweigerung zu gelten habe.

So kann argumentiert werden, dass eine schwer demenzkranke Person, die freudig isst, wenn ihr Nahrung eingegeben wird, dazu urteilsfähig sei, und eine Patientenverfügung, die dies untersage, also nicht entscheidungsrelevant sei. Auch wenn man diesen Analogieschluss akzeptiert, ist doch im Alltag das Eingeben von Nahrung bei schwer Demenzkranken eher selten von offensichtlicher Freude und Zustimmung geprägt, sondern meist ein mühsames Drängen. Das einfache Öffnen des Mundes beim Zum-Munde-Führen von Nahrung scheint mir indessen oft mehr ein unwillkürlicher Reflex als eine Willensäusserung zu sein.

Terminales Fasten als Option

Deshalb erachte ich das eingangs angeführte Argument von Professor Borasio gegen die für das Stadium einer schweren Demenz erweiterte Patientenverfügung als in der Praxis irrelevant. Ich empfehle vielmehr weiterhin Menschen, die im Falle einer so schweren Demenz, dass sie sich auch keinen Fingerfood mehr selber zuführen können, das Eingeben von Nahrung und Flüssigkeit durch Dritte mittels einer Patientenverfügungsergänzung zu verbieten, wenn sie in dieser Situation lieber durch terminales Fasten sterben möchten als weiterleben zu müssen.

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