Notfallsituationen im Pflegeheim

Text von Gabriela Bieri-Brüning, Ärztliche Direktorin, Pflegezentren der Stadt Zürich: Auch in Pflegeheimen treten immer wieder medizinische Notfälle auf. Obwohl es die gleichen Krankheitsgeschehen sind wie in Hausarztpraxen und in den Notfallstationen von Spitälern, zeigen sie ein deutlich anderes Bild

Die Voraussetzungen für die ärztliche Tätigkeit in Pflegeheimen unterscheiden sich von denen in einer Hausarztpraxis. Das gilt auch in Notfallsituationen. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Ein älterer Patient kommt in die Arztpraxis und klagt über Unterbauchbeschwerden sowie Schwierigkeiten beim Wasserlösen. Die Untersuchung zeigt einen deutlichen Widerstand im Unterbauch, und der Verdacht auf ein Harnverhalten allenfalls im Rahmen einer Harnwegsinfektion liegt nahe. Im Pflegeheim beobachtet eine Pflegende einen immer unruhiger werdenden Patienten und bittet den (Haus-)arzt um die Verordnung eines Beruhigungsmittels. Der Schluss, dass hier das gleiche Problem wie beim Patienten in der Hausarztpraxis, nämlich ein Harnverhalten, allenfalls mit Harnwegsinfektion vorliegen könnte, ist deutlich weniger naheliegend.

Ein wesentlicher Unterschied liegt also darin, dass der Patient in der Hausarztpraxis die Behandlung selbst anfordert und die Therapie aufgrund seiner Schilderungen und weiterführenden Untersuchungen eingeleitet wird. Dagegen fordern im Pflegeheim Drittpersonen, Pflegende oder Angehörige, die ärztlichen Leistungen an. Dabei ist nicht immer klar, ob die Bedürfnisse der Drittpersonen mit denen des Patienten/der Patientin übereinstimmen. Auch liegt bei diesen Patientinnen und Patienten häufig eine demenzielle Erkrankung vor, weshalb ihre Auskünfte oft ungenau und unzuverlässig sind. Der Arzt/die Ärztin ist also auf die Informationen der Pflegenden angewiesen und muss aufgrund dieser entscheiden, ob ein aufwändiger Hausbesuch im Heim wirklich nötig ist oder ob er/sie die Behandlung telefonisch verordnen kann. Die interprofessionelle Zusammenarbeit, die Kommunikation und der Informationsfluss zwischen dem Pflegeteam und dem behandelnden Arzt oder der Ärztin sind somit von sehr grosser Bedeutung. Wer informiert wann, wen und wie? Wird der Arzt/die Ärztin rechtzeitig kontaktiert? Welche Fragen werden beim Telefonanruf an sie oder ihn gerichtet? Für eine gute Notfallversorgung im Heim ist ausschlaggebend, dass sich die Beteiligten gegenseitig ernst nehmen und auf Augenhöhe verkehren.

Das Behandlungskonzept muss geklärt und bekannt sein

Die Klärung des gewünschten Behandlungsziels und der Behandlungsintensität ist bei alten Menschen, insbesondere wenn sie in Pflegeheimen leben, sehr wichtig. Das Behandlungskonzept muss gemeinsam mit Patient und Patientin, Angehörigen, Pflege und Arzt/Ärztin diskutiert und vor einem akuten Notfall festgelegt werden. Dabei ist die Klärung der Behandlungsintensität prioritär. Auch der Entscheid, ob Reanimation durchgeführt werden soll oder nicht, muss angesprochen werden, steht aber bei Heimbewohnerinnen und -bewohnern nicht im Vordergrund, da die Erfolgsrate der Reanimation im Heim mit etwa 1 Prozent sehr gering ist . Die Pflegezentren der Stadt Zürich arbeiten seit vielen Jahren mit einer einfachen, dreistufigen Einteilung der Behandlungsintensität:

Stufe 1, kurativ im Spital:
Es soll alles getan werden, um das Leben zu verlängern und die Krankheit zu behandeln inkl. Hospitalisation im Akutspital.

Stufe 2, kurativ im Heim:
Es wird jede Behandlung durchgeführt, die im Heim möglich ist, aber ohne Hospitalisation. Das bedeutet zum Beispiel die Behandlung einer Lungenentzündung mit Antibiotika.

Stufe 3, palliativ:
Bei dem rein palliativen Konzept, steht eine optimale Symptomkontrolle im Vordergrund.

In allen drei Intensitätsstufen ist eine gute pflegerische und ärztliche Betreuung im Sinne der Palliative Care bei nicht heilbaren Erkrankungen, wie sie bei Pflegeheimpatienten häufig vorliegen, selbstverständlich.

Ohne weiteres dürfen Bewohnerinnen und Bewohner und ihre Angehörigen jederzeit auf den Entscheid zurückkommen und dieser kann geändert werden. Im Verlaufe der Krankheit wechselt die Behandlungsintensität häufig von Stufe 1 über 2 zu 3. In einer Notfallsituation muss bei der Patientin / dem Patienten oder den Angehörigen noch einmal nachgefragt werden, ob der Entscheid für die gewählte Stufe immer noch richtig ist.

Erschwerte Kommunikation

Die Kommunikation ist, wie bereits erwähnt, schwierig. Einerseits weil sie oft indirekt erfolgt, andererseits weil Pflegeheimpatientinnen und -patienten oft an einer Demenz oder an einem Delir leiden, was die Kommunikation wiederum beeinträchtigt. Um im Notfall die nötigen Informationen zu erhalten, braucht es Erfahrung und das Kennen des betroffenen Menschen. Und vor allem braucht es Zeit. Auch hier ist der Arzt/die Ärztin auf die Unterstützung durch das Pflegeteam angewiesen, da die Pflegenden die Patienten und Patientinnen in der Regel besser kennen.

Keine umfassenden medizinischen Guidelines

Die Notfälle in Pflegeheimen belaufen sich auf relativ wenige akute Krankheitssituationen. Dies sind u. a. Stürze, Nebenwirkungen von Medikamenten, Delir, Infekte, Thrombosen, Harnverhalten, Schlaganfälle, akute Herzinsuffizienz, epileptische Anfälle und Bolusaspirationen. Für die meisten dieser Situationen gibt es Guidelines von medizinischen Fachgesellschaften. Für die Behandlung von meist multimorbiden Pflegeheimbewohner/-innen sind diese oft unzureichend. Einerseits sollten für die diversen Erkrankungen unterschiedliche Guidelines befolgt werden, die sich teilweise widersprechen. Andererseits muss immer der Aspekt der individuellen Lebensqualität und Lebenserwartung berücksichtigt werden. Denn nicht jede (lebensverlängernde) Behandlung trägt auch zum Erhalt oder zur Steigerung der Lebensqualität bei. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Demenz. Ausserdem haben Menschen mit Demenz für gewisse Behandlungen nur eingeschränkte Kooperationsmöglichkeiten. Dies und die individuelle Lebensqualität einer Patientin oder eines Patienten beeinflusst immer auch die Behandlungsentscheidungen. Dies zu berücksichtigen und abzuschätzen braucht viel Erfahrung und eine gute Kommunikation im Behandlungsteam.

Hospitalisationen und Lebensqualität

Ist im Zusammenhang mit einer geplanten oder notfallmässigen Behandlung eine Hospitalisation notwendig, müssen auch hier der Aspekt der Lebensqualität und der Patientenwunsch berücksichtigt werden. Es ist wichtig, dass unnötige Hospitalisationen vermieden werden. Die Behandlung mit Hospitalisation muss dem Wunsch und der Lebenserwartung der Person individuell angepasst sein. So spricht wenig gegen eine Kataraktoperation bei einem hochaltrigen Menschen. Schwierig ist es jedoch, wenn im Notfall ein Notfallarzt gerufen wird, der die betroffene Person und ihre Wünsche nicht kennt. Aus Unkenntnis und Fehlbeurteilung der Situation wird dann oft eine Hospitalisation veranlasst.

Die Rolle der Pflege

Zum Beherrschen von Notfallsituationen im Langzeitpflegebereich braucht es Pflegepersonal, das Notfälle als solche erkennt und rechtzeitig und möglichst umfassend den Arzt oder die Ärztin informiert. Insbesondere nachts und am Wochenende ist die Pflegefachperson in Notfallsituationen oft längere Zeit auf sich alleine gestellt. Für eine gute Beurteilung der Situation, die Information des Arztes/der Ärztin und die weitere Behandlung sind eine sorgfältige Krankenbeobachtung, Wissen und Erfahrung mit Krankheitsbildern im Alter essentiell. Eine regelmässige Fortbildung der Pflegefachpersonen zu wichtigen Krankheitsbildern und dem Umgang mit Notfallsituationen ist notwendig. Ausser diesem fachlichem Wissen brauchen Ärztinnen, Ärzte und Pflegende gute kommunikative Fähigkeiten, Verständnis für die Bedürfnisse der multimorbiden Bewohnerinnen und Bewohner und den Mut, Behandlungsentscheidungen zutreffen, die der Lebensqualität und den Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner entsprechen.

Alle
Praxis

Kommentar Schreiben

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert