Nachbarschaftliche Unterstützung bei sehbeeinträchtigten älteren Menschen

Seheinbussen oder Sehprobleme im Alter sind oft mit alltäglichen Einschränkungen verbunden. Durch Nutzung von professioneller und persönlicher Unterstützung kann trotz Sehbeeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben im Alter geführt werden. Eine auf den ersten Blick gelegentlich übersehene persönliche Unterstützung ist die nachbarschaftliche Unterstützung. Dieser kurze Beitrag zeigt anhand von empirischen Daten auf, dass viele Personen mit einer stärkeren Sehbeeinträchtigung regelmässig Unterstützung von ihren Nachbarn bei der Alltagsbewältigung erfahren.

Sehbeeinträchtigungen im Alter

Eine stärkere Sehbeeinträchtigung im Alter zu erfahren, kann eine Herausforderung für die Alltagsbewältigung bedeuten (siehe Beitrag vom 10.10.2014). Das Zentrum für Gerontologie beschäftigt sich bereits seit 2013 mit dem Thema der stärkeren Sehbeeinträchtigung im Alter. Im Projekt COVIAGE wurde anhand von Literaturrecherchen, qualitativen (N = 22) und quantitativen Erhebungen (N = 1299 Personen ab 70 Jahren bzw. 87 Personen mit einer im Alter manifestierenden stärkeren Sehbeeinträchtigung) sowie Experten-Workshops die Lebenssituation älterer Personen mit einer erst im Alter manifestierenden stärkeren Sehbeeinträchtigung erforscht. 2018 wurde hierzu der Schlussbericht (PDF, 3 MB) publiziert. Aus der Literaturrecherche, einer qualitativen Befragung und Experten-Workshops konnte bereits festgestellt werden, dass „Sehbehinderung im Alter“ ein wichtiges Forschungsthema ist, das für die Betroffenen selber mit alltäglichen Einschränkungen verbunden ist. Die Sehbeeinträchtigung hat meist einen negativen Einfluss auf die Alltagsbewältigung und die subjektive Lebensqualität; sie beeinflusst den Tagesablauf und die Bewertung der eigenen Selbstständigkeit und Autonomie.

Psychosoziale Bewältigung von Seheinbussen

Neben der medizinischen Abklärung der Sehprobleme ist es auch wichtig, den psychosozialen Bereich anzuschauen und zu fragen, welche Ressourcen trotz Einschränkung dabei helfen, den Alltag zu bewältigen und seine Lebensqualität zu stabilisieren. Die Ergebnisse der qualitativen Befragung machen deutlich, dass eine stärkere Sehbeeinträchtigung im Alter dann eher positiv bewältigt werden kann, wenn die betroffenen Personen selber proaktiv mit der Beeinträchtigung umgeht, ausreichende Unterstützung informeller wie formeller Art erhält und annimmt, und neue Bewältigungsstrategien erlernt. Daneben ist es aber auch wichtig, das soziale Umfeld über die Seheinbussen zu informieren und einzubeziehen. Neben den eigenen Ressourcen und der Unterstützung aus dem sozialen Umfeld sollten auch die bestehenden Beratungsangebote von Sehbehindertenorganisationen in Betracht gezogen werden (siehe z.B. Liste des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen SZB). Diese Beratungsstellen bieten nicht nur Unterstützung bei der Beschaffung und dem Erlernen von Hilfsmitteln, sondern auch die Möglichkeit, neue Bewältigungsstrategien zu erlernen und persönliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Es hat sich hier gezeigt, dass ein medizinischer Therapieerfolg durch die psychosoziale Beratung unterstützt wird und die Bewältigungsarbeit fördert.

Nachbarschaft als Unterstützungsressource

Wie bereits betont wurde, ist das soziale Umfeld eine wichtige Ressource in der Bewältigung einer Einschränkung wie einer starken Sehbeeinträchtigung. Eine Partnerin bzw. ein Partner, eigene Kinder oder andere Familienangehörige oder Freunde können wichtige Stützen in der Alltagsbewältigung darstellen. So berichten auch die befragten Personen, dass das soziale Umfeld einen hohen Stellenwert bei der Unterstützung einnimmt. Was bei der ressourcenorientierten Betrachtung des sozialen Umfelds teilweise etwas vernachlässigt wird, sind die Unterstützung und informellen Hilfen von Nachbarn. Die gerontologische Forschung hat immer wieder gezeigt, dass eine gute Nachbarschaft gerade im Alter eine wichtige Ressource ist und zu einem besseren Wohlbefinden im Alter beiträgt (siehe z.B. Beitrag vom 28.10.2015). Informelle Kontaktnetze können personale und soziale Ressourcen aktivieren und damit einen grossen Anteil an Hilfeleistungen bei alltagspraktischen Aufgaben übernehmen. Die Nachbarschaftshilfe ist daher ein nicht zu vernachlässigendes Instrument der Versorgungssicherung im Alter.

Am Zentrum für Gerontologie beschäftigen wir uns aktuell in der Studie „Nachbarschaftlichkeit im Alter“ mit der Frage der generellen Nachbarschaftshilfe bei älteren Menschen. Es kann hier bereits festgestellt werden, dass gerade Nachbarn dann für kleinere Hilfen angesprochen werden, wenn die Beziehungen zum Nachbarn bereits über eine gewisse Zeit bestehen und die eigene Nachbarschaft generell als „hilfsbereit“ bewertet wird. Dennoch gibt es auch eine gewisse Hürde, die Nachbarn um Hilfe zu bitten oder die eigene Hilfe anzubieten.

Nachbarschaftliche Unterstützung bei sehbeeinträchtigten älteren Menschen

Um herauszufinden, welchen Stellenwert Nachbarschaftlichkeit für Personen mit einer Sinnesbeeinträchtigung wie beispielsweise der stärkeren Sehbeeinträchtigung hat, wurde der aktuelle Datensatz der COVIAGE Befragung mit 87 Personen ab 70 Jahren mit einer erst im Alter manifestierenden stärkeren Sehbeeinträchtigung hinsichtlich dieser Frage zusätzlich ausgewertet. Die befragten Personen wurden hierbei gefragt, welche Unterstützung sie von bestimmten Personen bei der Alltagsbewältigung erhalten. Konkret wurden verschiedene Aussagen vorgelegt, denen die Personen zustimmen oder die sie ablehnen konnten. Eine dieser Aussagen war „Meine Nachbarn helfen mir viel im Alltag“; hier gaben 48% der befragten Personen an, dass sie dieser Aussage eher oder voll und ganz zustimmten. Im Vergleich zur Unterstützung durch die eigenen Kinder oder durch Freunde wird zwar die nachbarschaftliche Unterstützung seltener genannt, dennoch zeigen die hohen Werte der nachbarschaftlichen Unterstützung einen nicht zu vernachlässigen Stellenwert der Ressource „Nachbarschaftlichkeit“ für die Alltagsbewältigung (siehe Abbildung).

Abbildung: Soziale und nachbarschaftliche Unterstützung

Werden nun Personenmerkmale wie Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen, Wohnort oder Zivilstand mit der Häufigkeit nachbarschaftlicher Unterstützung in Zusammenhang gebracht (Korrelation und Regression) lassen sich keine signifikanten Unterschiede erkennen; obwohl Personen, die mit einer Partnerin bzw. einem Partner zusammenleben, etwas häufiger nachbarschaftliche Unterstützung angaben als Personen, die allein leben. Anscheinend nutzen alleinlebende Personen diese Form der Unterstützung weniger; vielleicht auch aus dem Grund, dass sie sich eher zurückziehen und somit generell weniger Kontakt zu Nachbarn haben. Jedoch kann dieser Zusammenhang mit den vorliegenden Daten nicht eindeutig belegt werden und bedarf weiterer Forschung. Es kann aber auch festgestellt werden, dass Personen, die viel Unterstützung aus dem eigenen sozialen Umfeld einschliesslich der Nachbarschaft erhalten, etwas häufiger angaben, dass sie ihren Alltag trotz der stärkeren Sehbeeinträchtigung gut bewältigen könnten als Personen, die keine dieser Ressourcen zur Verfügung haben.

Schlussbemerkungen

Der Alltag mit einer Sehbehinderung ist mit alltäglichen Einschränkungen und Neubewertungen der eigenen Lebensqualität verbunden. Durch Nutzung von persönlichen, sozialen, medizinischen und technischen Ressourcen kann trotz Sehbehinderung ein selbstbestimmtes und gutes Leben im Alter geführt werden. Innerhalb des sozialen Umfeldes nehmen neben der eigenen Familie und den Freunden auch Nachbarn eine wichtige Rolle ein; diese können eine Ressource für die Alltagsbewältigung darstellen. Die diesbezüglichen Auswertungen zeigen, dass fast die Hälfte der befragten älteren Personen mit einer stärkeren Sehbeeinträchtigung angab, dass ihnen ihre Nachbarn viel im Alltag hülfen; für diese Personen sind die Nachbarn eine wichtige Stütze im Alltag. Weitere Forschung sollte hier nun der Frage nachgehen, wie diese Unterstützungsform in den einzelnen Quartieren gefördert werden könnte – oder im Fall von Personen, die bisher keine nachbarschaftliche Unterstützung erfahren bzw. erbringen, inwieweit eine organisierte Nachbarschaftshilfe Angebot und Nachfrage koordinieren und zusammenbringen kann.

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