Leben ist ein Wechselspiel zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, Planbarem und Dingen, die uns einfach widerfahren. Beide Pole gewinnen im Blick auf das Leben in fortgeschrittenem Alter eine besondere Zuspitzung. Beide Pole sind eine Herausforderung an eine Lebenskunst, also an eine bewusste, selbstverantwortete Lebensführung.
Vom Schicksal zum Machsal
Früher war vieles Schicksal, unverfügbar, musste einfach hingenommen werden. Man musste sich ins Unverfügbare «schicken»: Gesundheit und Krankheit, Elternschaft oder Kinderlosigkeit, Sterben oder Weiterleben. Hier ging es um Vorgegebenes, das man akzeptierte; eigene Entscheidung oder Planung war nicht im Blick. Demgegenüber ist es ein Merkmal der Moderne, dass sich hier ein Wandel vollzogen hat: vom Schicksal zum Machsal (O. Marquard): Wir können heute vieles selber steuern, planen, entscheiden, was früher ausserhalb unserer Selbstbestimmung oder Verfügbarkeit lag.
Ein Grundimpuls der modernen westlichen Gesellschaften liegt, wie der Soziologe Hartmut Rosa aufgezeigt hat, darin, sich die Welt verfügbar zu machen, sie kontrollieren zu können. Wir können unser Leben heute weitgehend selber planen und gestalten, können ein Leben «führen». Darin liegt eine grosse Freiheit.
Ein paar Beispiele:
• Gesundheit hat heute viel mit selber steuerbaren Faktoren zu tun: mit unserem Lebensstil, mit Diät und Nahrungsergänzungsmitteln, mit Aktivitäten im Fitness-Bereich.
• Die berufliche Laufbahn ist heute über die früher übliche Grundausbildung hinaus gestaltbar durch vielfältige Möglichkeiten der Weiterbildung, von Umschulungen, Quereinstiegen, Wahl von Teilzeitjobs und Kombinationen von Familie und Arbeitszeit.
• Familienplanung: Schwangerschaftsverhütung, künstliche Befruchtung, Samenspende, vorgeburtliche Untersuchungen am Embryo und allfällige Möglichkeit zur Abtreibung eröffnen heute viele Handlungs- und Entscheidungsoptionen.
• Medizinisch-pflegerische Behandlungen bei Urteilsunfähigkeit am Lebensende kann heute durch Patientenverfügungen zum Voraus bestimmt werden. Und in der Mehrheit der medizinisch begleiteten Sterbeprozesse stehen heute Lebensende-Entscheidungen an: Entscheidungen, ob man das Sterben zulassen oder das Leben verlängern will. Selbstbestimmtes Sterben ist zum Normalfall geworden!
Freiheit oder Zumutung?
Wir können und dürfen nicht nur, wir müssen unser Leben heute in vielfacher Hinsicht selber planen und selbstbestimmt führen. Deshalb tragen wir auch ein gegenüber früher erhöhtes Mass an Selbstverantwortung. Aus der neuen Freiheit des Entscheidens und Verfügens kann allerdings auch eine empfundene Zumutung, ein neuer Zwang oder gar eine Überforderung werden, gerade bei Menschen im höheren Alter. Wer die Wahl hat, hat manchmal auch die Qual, nicht nur eine beglückende Wahlfreiheit! Das zeigt sich gerade bei Themen wie der Familienplanung und Pränataldiagnostik, bei der medizinischen Vorausbestimmung oder bei selbstbestimmten Entscheiden am Lebensende.
Zugemutete Freiheit wahrnehmen lernen
Es gehört zu einer mündigen modernen Lebensgestaltung, die uns heute ermöglichte und zugemutete Freiheit wahrzunehmen, manches selbst zu entscheiden und zu verantworten. Das braucht Mut und Klugheit und ein sorgfältiges Abwägen von Gründen. Sozialarbeitende und medizinisches Personal haben die Aufgabe, ihren Klient*innen zu helfen und sie zu ermutigen, solche Lebensplanung und Lebensentscheidungen vorzunehmen, damit diese die heute bestehenden Wahlmöglichkeiten als Freiheit, nicht als Überforderung erleben.
Um solche Freiheit im Bereich des Planbaren, Verfügbaren wahrnehmen zu können, braucht es
– Information über vorhandene Möglichkeiten (Beratung)
– Klarheit über eigene Prioritäten, Werte, Ziele, Wünsche
– und die Bereitschaft, Entscheidungen zu treffen und umsetzen.
Mit dem Unverfügbaren umgehen lernen
Weil unsere Kultur so sehr auf Machbarkeit, Selbstbestimmung und Kontrolle aus ist, haben wir gegenüber früher eher verlernt, mit dem Schicksalshaften, dem Unverfügbaren umzugehen, das uns einfach ungeplant und vielleicht ungewollt widerfährt: der Tod des Lebenspartners, der Verlust der Arbeitsstelle, eine schwere Krankheit. Wir tun uns schwer damit, hilfreich mit Entwicklungen umzugehen, die wir nicht erwartet haben: eine Scheidung, Veränderungen an der Arbeitsstelle, Einschränkungen wegen Corona-Massnahmen. Dinge einfach geschehen zu lassen und anzunehmen, was auf uns zukommt, um uns dann konstruktiv damit auseinanderzusetzen, fällt nicht leicht.
Leben ist ein Prozess, der sich biologisch, psychologisch und sozial nicht einfach planen und kontrollieren lässt. Das kann verunsichern und Angst machen. Der Medizinethiker Giovanni Maio hält dem entgegen: Erfülltes Leben gibt es nur, «wenn sich im Leben das Unerwartete ergibt, wenn es gespickt ist mit Unvorhersehbarem, Unwägbarem und wenn es voller Ereignisse ist, die uns überraschen. Auch das Unerbetene gehört zu den Dingen im Leben, die ihm Tiefe verleihen. Ein Leben aber, in dem wir nichts Unerbetenes hätten, in dem uns weder etwas herausfordern noch überraschen noch vor eine Aufgabe stellen würde, wäre vermutlich ein durch und durch sinnloses Leben.» Gerade im Alter steigt das Risiko, dass uns Unvorhergesehenes, auch Unerbetenes zustösst. Wie damit umgehen?
Chancen und Glück bewusst wahrnehmen
Das Unverfügbare kann uns positiv berühren: Gutes, das uns widerfährt; Hilfe, die uns überraschend zuteilwird; Chancen, die sich eröffnen; Glück, das uns zufällt. Es gehört zu einer Lebenskunst, so wach und offen durchs Leben zu gehen, dass wir bewusst wahrnehmen, was einem da an unverfügbar Positivem zufällt. Es ist eine Herausforderung, nicht achtlos am Glück und an den Chancen vorbeizugehen, die sich im Alltag zeigen. Die Psychologin Verena Kast meint: «Die wichtigsten Erfahrungen im Leben sind nicht kontrollierbar. Das Wichtigste im Leben ist unverfügbar – nicht nur im Alter.» Dieser Blick für das Positiv-Unverfügbare ist entscheidend für ein gelingendes Leben.
Widerstandskraft im Umgang mit dem Unerbetenen
Mit negativen Dingen, die uns widerfahren, umzugehen, ist eine besondere Aufgabe. Es verlangt innere Widerstandskraft (Resilienz). Das ist gerade im höheren Alter oft eine Herausforderung, wenn es gilt, mit Verlusten umzugehen: Verlust von nahestehenden Menschen, Verlust der Gesundheit, Verlust der Hör- und Sehkraft, Verlust der Fähigkeit zu selbstständigem Handeln und Leben. Dann gilt es, das zuerst einmal anzunehmen: das ist jetzt so, damit muss ich mich auseinandersetzen. Dazu gehört, die eigenen negativen Gefühle nicht zu verdrängen, aber sich auch nicht von ihnen dominieren zu lassen. Dazu gehört weiter eine möglichst realistische Situationsanalyse: Wie stellt sich das Problem sachlich dar? Wo finde ich Hilfe? Was kann ich selber unternehmen, um die Lage positiv zu verändern?
Für Mitarbeitende in sozialen und medizinischen Berufen gehört es zu ihrer Verantwortung, ihre Klient*innen darin zu unterstützen, Wege zu finden, das Unverfügbare im Positiven dankbar wahrzunehmen und sich im Negativen mutig und lebensdienlich damit auseinanderzusetzen.
Weisheit im Unterscheiden
Beides will immer wieder eingeübt werden: das Umgehen mit dem Planbaren und dem Unverfügbaren. Denn Leben ist ein Wechselspiel zwischen beiden Polen. Für die Psychologin Verena Kast ist es Ausdruck von Weisheit, «nach und nach zu lernen, was kontrolliert werden kann, auch kontrolliert werden muss, und was man getrost auf sich zukommen lassen kann oder muss.»