Kulturelle Teilhabe, Beziehungsgestaltung und Kommunikation in Alters- und Pflegeinstitutionen – Teil 1: «Music Circles»

Der Umzug älterer Menschen in ein Alters- oder Pflegeheim bedeutet eine starke Veränderung im Leben der betroffenen Personen. Nebst den neuen Räumlichkeiten und Personen, die einen umgeben, begegnen die älteren Personen oft auch einer kulturellen Isolation. Während früher selbständig und autonom kulturelle Angebote wie Konzerte, Museen oder Kunstausstellungen besucht werden konnten, fällt dies in der neuen Situation schwerer. Physische, psychische oder kognitive Beeinträchtigungen lassen die kulturellen Angebote für Bewohnende von Alters- und Pflegezentren oft in weite Ferne rücken. Über die Musik und die Kunst können jedoch einzigartige Zugänge zu und Beziehungen zwischen Menschen geschaffen werden. 

Ausgangslage

Die Förderung der kulturellen und sozialen Teilhabe von älteren Menschen sowie das Schaffen eines Rahmens für die Entstehung von intergenerationellen Beziehungen sind wichtige Elemente auf dem Weg zur Integration und zur Teilhabe älterer Menschen sowie ein wichtiger Aspekt für eine hohe Lebensqualität (United Nations Economic Commission for Europe, 2010). Um die Vielfalt von Biografien und Interessen von Bewohnerinnen und Bewohnern in Alters- und Pflegeinstitutionen abzubilden, wird ein Aktivierungs- und Freizeitangebot benötigt, das der einzelnen Person die Möglichkeit gibt, sich gestaltend – und selbstbestimmt – in einen kreativen Prozess einzubringen. Dies entspricht dem Ansatz des Gesunden Alterns («Healthy Ageing») der WHO (Beard et al., 2016). Dieser betont die Wichtigkeit, Menschen im höheren Alter unterschiedliche Möglichkeiten zu bieten, ihr Leben selbstbestimmt und individuell bedeutsam zu gestalten. Dadurch wird ermöglicht, ihre Autonomie, ihre Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit aufrecht zu erhalten und zu fördern. 

Das Zentrum für Gerontologie und der Forschungsschwerpunkt Dynamik Gesunden Alterns begleiten zwei höchst innovative Projekte, die sich genau dieser aktuellen Ausgangslage annehmen. Der erste Blogbeitrag zu diesem Thema widmet sich dem Projekt «Music Circles». 

Durch Musik in Kontakt treten

Insbesondere bei Menschen mit Demenz zeigt sich im Verlauf ihrer Erkrankung oft ein Abbau im Bereich der verbalen Kommunikation. Dadurch entsteht eine Herausforderung für das Umfeld der Betroffenen, insbesondere für die Angehörigen und für die Mitarbeitenden in Pflegeeinrichtungen. Non-verbale Kommunikation erhält dadurch eine wichtige Bedeutung, um die Bedürfnisse der Bewohnenden und deren Gefühlzustände wahrzunehmen, auszudrücken und auf diese adäquat zu reagieren. Musik ist eine Sprache, die über das gesprochene Wort hinausgeht und ein bewährtes Medium, um Menschen mit Demenz auf einer emotionalen Ebene zu erreichen. Gemeinsames Musizieren macht es möglich, dass Menschen miteinander in Kontakt treten können, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Die emotionale Reaktion von Menschen auf Musik bleibt dabei immer bestehen und kann auch in weit fortgeschrittenen Stadien der Demenz noch festgestellt werden. Durch ein sorgsames Achten auf solche Reaktionen und den gegenwärtigen Seins-Zustand von Menschen mit Demenz kann musikalisch Resonanz gegeben werden, was zu einem non-verbalen Dialog über die Musik führen kann. 

Jael Bertschinger stützt sich bei ihrem innovativen Projekt «Music Circles» unter anderem auf diese Ansatz. Die erfahrene Berufsmusikerin arbeitet mit ihrem Team von professionellen Musiker*innen daran, das ursprünglich in London gegründete Modell «Music for Life» durch das Projekt «Music Circles» an die Schweizer Pflegelandschaft zu adaptieren.

Die Intervention «Music Circles»

Dabei treten Kulturschaffende in Form von professionellen Musiker*innen über die Musik in Kontakt mit Menschen mit Demenz und ihrem Umfeld, um in einen Austausch auf Augenhöhe zu kommen. In einem Musikkreis bestehend aus den Musiker*innen, Menschen mit Demenz und Mitarbeitenden der Institution wird gemeinsam musikalisch improvisiert und interagiert, Resonanz gegeben, Dialoge werden gesucht. Dadurch erhalten die Beteiligten des Musikkreises die Gelegenheit, Musik in diesem Setting auf ihre einzigartige Weise zu erleben.

«Music Circles» interessiert sich für beeinträchtigte Menschen / Menschen mit Demenz mit ihrer Biografie, die sie zu individuellen und einzigartig ausgeprägten Persönlichkeiten gebildet hat. Dabei erhebt «Music Circles» weder den Anspruch, eine Therapie zu sein, noch Unterhaltung und Aufführungen zu bieten. Im Kern dieser Herangehensweise liegt ein künstlerisch kreativer Prozess. Betroffene und ihre Betreuenden werden aktiv in die musikalische Tätigkeit einbezogen und tragen zur Beziehungsgestaltung bei. Diese Form der Musikintervention bietet einen Rahmen für die Entwicklung von positiven emotionalen Beziehungen sowie berührenden und bedeutsamen Momenten innerhalb der Gruppe, was ein voneinander Lernen auf einer tiefergehenden Ebene ermöglicht.

Ziele

Ziel dieser Musikintervention ist einerseits, durch das improvisierte Zusammenspiel einen Rahmen für die Entwicklung von positiven emotionalen Beziehungen sowie berührende und bedeutsame Momente innerhalb der Gruppe zu entwickeln und damit zur Stabilisierung der individuellen Lebensqualität der Beteiligten beizutragen. Weiterhin kann durch den Einsatz von Musik das kreative Potenzial von Menschen mit einer Demenz hervortreten. Andererseits profitieren auch die Mitarbeitenden von der Intervention, da sie durch den musikalischen Austausch eine neue Ebene und erweiterte Möglichkeiten der Kommunikation kennenlernen. Dies soll sich positiv und sinnstiftend auf die Zusammenarbeit mit den Bewohnenden sowie innerhalb des Teams auswirken. Die professionellen Musiker*innen erlernen eine neue Anwendungsform der Musik und erweitern ihre Kenntnisse und Erfahrungen durch die Zusammenarbeit mit Menschen mit Demenz.

Langfristig soll die Musikintervention «Music Circles» an die Pflegelandschaft der Schweiz adaptiert werden und in das Spektrum nicht-pharmakologischer Interventionsmöglichkeiten für Menschen mit Demenz in Alters- und Pflegeinstitutionen integriert werden. Dazu soll ein Leitfaden erstellt werden, der die Durchführung sowie Empfehlungen und Indikationen für die Durchführung von «Music Circles» beinhaltet.

Ausblick

Die Evaluation dieses innovativen Projekts – und des im zweiten Teil zu beschreibenden Projekts «Artists in Residence» – wird über die nächsten vier Jahre stattfinden. Dabei wird einerseits ein Augenmerk auf Gelingensbedingungen und Hindernisse in der Ausführung dieser Projekte gelegt. Andererseits werden Daten zur Lebensqualität der Bewohnenden, zu Beziehungen und zur Kommunikation zwischen den involvierten Personen, sowie zur Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden erhoben. Gemeinsam mit den Projektleiterinnen wird die langfristige Integration der beiden Projekte in die Schweizer Pflegelandschaft angestrebt. 

Literatur und Links

United Nations Economic Commission for Europe. (2010). Integration and participation of older persons in society. UNECE Policy Brief on Ageing No. 4https://doi.org/10.6092/unibo/amsacta/6247

Beard, J. R., Officer, A., De Carvalho, I. A., Sadana, R., Pot, A. M., Michel, J. P., … Chatterji, S. (2016). The World report on ageing and health: A policy framework for healthy ageing. The Lancet387(10033), 2145–2154. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(15)00516-4

Universität Zürich, Zentrum für Gerontologie: Projekt «Music Circles». https://www.zfg.uzh.ch/de/projekt/Music-Circles.html

Universität Zürich, Zentrum für Gerontologie: Projekt «Artists in Residence». https://www.zfg.uzh.ch/de/projekt/Artists-in-Residence.html

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