Implementierung von Ethikstrukturen ist ein Gewinn

In der stationären und ambulanten Langzeitpflege werden mehrheitlich vulnerable pflegebedürftige Menschen betreut und gepflegt. Die Mitarbeitenden sind daher gehäuft mit komplexen Situationen konfrontiert, die zu Zwangslagen und Entscheidungsschwierigkeiten führen können. Ethische Fragen oder Problemstellungen entstehen nicht explizit durch spezifische Umstände, die sich in Pflegesituationen ergeben. Auch vorgegebene, suboptimale Rahmenbedingungen sind dafür mitverantwortlich. In diesem Beitrag wird darauf eingegangen. Im Weiteren folgen Anregungen zur Implementierung von betrieblichen Ethikstrukturen. Dies anhand des Ethik-Programms «METAP II-Alltagsethik für die ambulante und stationäre Langzeitpflege». An deren Entwicklung waren wissenschaftlich und praktisch tätige Fachpersonen aus unterschiedlichen Berufsgruppen beteiligt.

Entstehungsbedingungen für ethische Problemfelder

Ethische Fragestellungen und Problemfelder entwickeln sich oft dann, wenn in Pflegesituationen zu viel, oder zu wenig getan wird. Aber auch, wenn das Falsche gemacht wird und wenn ungerecht verfahren wird, oder es Hinweise darauf gibt, sind Entstehungsbedingungen für ethische Problemfelder gegeben. Sowohl strukturelle, als auch individuelle Umstände sind dafür verantwortlich.

Individuelle Umstände (Mikroebene)

Die Gefahr der Über-, Unter, Fehl- oder Ungleichversorgung ist in der ambulanten und stationären Langzeitpflege nicht zu unterschätzen. Dies ist so aufgrund der erhöhten Vulnerabilität der betreuten Personen. Die Mitarbeitenden müssen sich daher mit folgenden komplexen physischen, psychischen und sozialen Themenfeldern auseinandersetzen: Multimorbidität, chronische Erkrankungen, schwere Pflegebedürftigkeit, Lebensende, die fragile Urteilsfähigkeit durch hirnorganische oder psychische Erkrankungen, Vereinsamung, Verwahrlosung sowie finanzielle Probleme und erschöpfte Angehörige. Ein gewichtiger Faktor für ethische Fragen und Probleme auf der Mikroebene ist ein allfällig vorhandener Personalmangel, der nicht selten chronischen Zeitdruck mit daraus resultierendem moralischem Stress auslöst (z. B. nicht zu genügen, Handeln entspricht nicht dem beruflichen Ethos, etc.).

Strukturelle Umstände (Makro- und Mesoebene)

Die Makroebene beinhaltet vorgegebene gesellschaftliche, sozialpolitische oder versicherungsrechtliche Rahmenbedingungen, die Auswirkungen auf konkrete Pflegesituationen haben. Beispielsweise führen ungedeckte Kosten durch inadäquate Versicherungsmodelle, ungedeckte Betreuungsleistungen sowie uneinheitliche kantonale und/oder kommunale Finanzierungen zu einer Kostenüberwälzung auf die Pflegeempfängerinnen und -empfänger.

Fehlende oder mangelhafte strukturelle Rahmenbedingungen innerhalb der Institution (Mesoebene) können ebenso ethische Fragen und Problemfelder auslösen. Dazu gehören beispielsweise Unternehmenskulturen mit fehlgeleiteter Ökonomisierung wie: systematischer Personalmangel, Bildungsmassnahmen, die trotz gegebenem Bedarf nicht ermöglicht werden, nicht ausreichende Patienteninformationen, um eine professionelle Arbeitsweise zu ermöglichen, oder die Bearbeitung von aufwändigen Leistungserhebungs- und Abrechnungssystemen unter Einhaltung von vorgegebenen unrealistischen Zeitfenstern.

Zwischenfazit

Entscheidungen, die auf der Makro- und Mesoebene getroffen werden, haben unmittelbare Konsequenzen für die Beteiligten auf der Mikroebene. Wird beispielsweise aus ökonomischen Gründen die Reduktion des Personalschlüssels vorgenommen und dies trotz Zunahme der Pflegekomplexität, so kann nur noch eine auf das «Notwendigste» reduzierte Versorgung anstelle einer individualisierte Pflege geleistet werden. Daraus kann sich, wie bereits oben erwähnt, moralischer Stress mit Schuldgefühlen und Arbeitsunzufriedenheit bis hin zu Kündigungsabsichten oder gar beruflicher Neuorientierung entwickeln. Denn Pflegfachpersonen erleben ethische Problemsituationen als besonders belastend, wenn sie zur Erkenntnis kommen, dass sie moralisch fragwürdige Situationen kaum beeinflussen können.

Gelebte Alltagsethik –wie kann das funktionieren?

Hier folgen Auszüge aus dem Programm «METAP II-Alltagsethik für die ambulante und stationäre Langzeitpflege». Sie zeigen, wie betriebliche Ethikstrukturen implementiert und gelebt werden können. Der Begriff METAP steht für Modular, Ethik, Therapie, Allokation (steht für den Begriff Mittelzuteilung) und Prozess. Das aus zwei handlichen Lehrmitteln bestehende Ethikprogramm beinhaltet einerseits fundierte Stellungnahmen zu den Entstehungsbedingungen von ethischen Problemen. Andererseits sind dazu Lösungsansätze enthalten. Ferner ist es ein Modell zur weitgehend eigenständigen ethischen Entscheidungsfindung in herausfordernden Pflege- und Betreuungssituationen und kann auch als institutionelles Ethikprogramm implementiert werden.

Eskalationsmodell- Beschreibung der vier Stufen

Das Eskalationsmodell ist ein vierstufiges ethisches Problemlösungsverfahren und gilt als Kernelement zur ethischen Bearbeitung von Fragen und Unsicherheiten im Pflegealltag. Die Tabelle und Erläuterungen dazu wurden aus Band 1 und 2 von METAP II sowie dem dazugehörigen Leporello entnommen.

  Stufe 1: «Die systematische ethische Kurzanalyse zur eigenen Orientierung»  
Bei einem Hinweis auf eine ethisch unangemessene Pflege und Betreuung orientiert sich die pflegende Person selbstständig. Dies geschieht systematisch mit Unterstützung der Checkliste «Identifikation des ethischen Problems». Die Checklisten-Fragen sind unter anderem nach den vier medizinethischen Prinzipien geordnet. Sie sollen helfen, das Problem mit explizitem Bezug zum Patientenwillen einzugrenzen. Möglicherweise wird der Fachperson nun klar, dass ihr ethisches oder praxisbasiertes Wissen fehlt, oder, dass zu dieser Situation wichtige Informationen fehlen und daher abgeklärt werden müssen, oder diese gar unkorrekt sind. Trifft dies zu, so kann anhand der «Checkliste zur Informationssammlung» überprüft werden, welche Patienteninformationen zur Weiterbearbeitung der Frage fehlen.
  Stufe 2: «Systematische ethische Kurzbesprechung»  
Wenn sich das Problem nicht alleine klären lässt, geht die Person zur/zum METAP-Verantwortlichen im Team. Mit erneuter Zuhilfenahme der Checkliste «Identifikation des ethischen Problems» wird eine ethische Kurzbesprechung abgehalten. Das Zweiergespräch soll dazu dienen, sich abzusichern und Fehler zu entdecken sowie weitere zu vermeiden. In diesem Prozess zeigt es sich auch, ob weitere ethische Fragestellungen erkennbar werden. Möglicherweise kann dann die Problemlösung eingeleitet werden und erfolgen. Eventuell müssen weitere Hintergrundinformationen recherchiert und zusammengetragen werden. Und, dank der bereits sorgfältig zusammengetragenen Informationen, kann die Problemstellung gegenüber Dritten klar formuliert werden. Wenn das Problem bearbeitet und gelöst werden konnte, so soll abschliessend überprüft werden, ob das Ergebnis fachlich und ethisch angemessen ist. Dafür ist ebenso ein effizientes Instrument vorhanden.
  Stufe 3: «Ethische Fallbesprechung im Team»  
In der dritten Stufe des Eskalationsmodelles erfolgt eine strukturierte und moderierte ethische Fallbesprechung, an der alle Involvierten teilnehmen. Eine sorgfältige Vorbereitung und ein strukturierter Ablauf sind notwendig. Diese werden detailliert in Band 2 beschrieben. Das Leporello enthält Ablaufschemata und Fragelisten zur Vorbereitung und Durchführung der ethischen Fallbesprechung.
  Stufe 4: «Professionelle Ethikberatung» (mobil und online)  
Wenn in der Stufe 3 keine Problemlösung erzielt wurde, kann eine externe Sichtweise weiterhelfen und neue Impulse geben sowie beigezogen werden. Dies kann beispielsweise bei spezifischen Fragen sein, die durch die Beteiligten vor Ort nicht beantwortet werden konnten. Oder, wenn Teamkonflikte oder Konflikte mit der betroffenen Person und/oder den Angehörigen vorhanden sind. Eine externe Beratung macht ebenfalls Sinn, wenn sich ein Team versichern will, dass es alle wichtigen Aspekte berücksichtigt hat und eine Zweitmeinung zu den beschlossenen Massnahmen haben möchte.

Ausblick

Viele Institutionen der ambulanten und stationären Langzeitpflege setzen sich schon heute dafür ein, dass sie trotz komplexen politischen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen ihre Sorgfaltspflicht gegenüber den Pflegebedürftigen und ihrem Personal wahren können. Diese Herausforderungen dürften sich aufgrund der demografischen Entwicklung, dem sich verschärfenden Personalmangel sowie weiteren Schwierigkeiten, noch komplexer werden. Die Implementierung von individuellen, betrieblichen Ethikstrukturen könnte hierfür eine wichtige Unterstützung sein.

Quellen

  • Albisser Schleger, H. (Hg.) (2019): Metap II-Alltagsethik für die ambulante und stationäre Langzeitpflege, Band I und II. Schwabe Verlag. Basel.
  • Dörries, A., Neitzke, G., Simon, A. & Vollmann, J. (Hg.) (2010): Klinische Ethikberatung. Verlag W. Kohlhammer. Stuttgart.
  • SBK. Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. (2003): Ethik in der Pflegepraxis. Bern.
  • Kälvemark Sporrong, S., Höglund, A., & Arnetz, B. (2006): Measuring Moral Distress in Pharmacy and Clinical Practice. Nursing Ethics. 13(4).
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