Horch, was kommt von draussen rein? Der Zusammenhang von Hören und Gleichgewicht in der Lebensspanne

Text: Cornelia Schneider, Physiotherapeutin, Pflegezentrum Entlisberg und Clara Himmelhoch: Hören hat viele Facetten: Ohren spitzen, lauschen, Gehör suchen, jemandem sein Ohr leihen, weghören, nicht mehr so gut hören. Und es spielt eine wichtige Rolle, um im Gleichgewicht zu sein. Hörverlust erschwert die Verständigung und die Teilnahme an Gesprächen. Beobachtet man die menschlichen Sinne und Systeme aus einer vernetzten und zusammenwirkenden Sichtweise, stellt sich die Frage, welche Folgen sich daraus entwickeln können.

Der Hörsinn spielt zu Beginn des Lebens eine zentrale Rolle für eine gesunde motorische, soziale Entwicklung und den Spracherwerb. Im Innenohr befinden sich auf engstem Raum zwei unterschiedliche Sinne: der Hör- und Gleichgewichtssinn. Die Fähigkeit zu hören entwickelt sich bereits ab dem 4. Schwangerschaftsmonat. So können Neugeborene Geräusche in ihrer Umgebung wahrnehmen und menschliche Stimmen davon unterscheiden. Säuglinge und Kleinkinder mit häufigen Infekten, die sich durch die Nase ins Mittelohr ausbreiten, zeigen nur vorübergehend einen Hörverlust. Es können sich jedoch Hörverarbeitungsstörungen entwickeln, die Aufmerksamkeit, Gleichgewicht und Sprachentwicklung beeinträchtigen und das schulische und soziale Lernen prägen.

Audiopsychophonologie – Die Methode

In solchen Situationen kann das diagnostische und musikbasierte therapeutische Vorgehen der «Audio–Psycho–Phonologie» nach Alfred A. Tomatis (www.a-p-p.ch/de) weiterhelfen. Oft wird die Methode auch in Kombination mit therapeutischen Massnahmen für Sprachentwicklung und Motorik angewendet. Tomatis war Facharzt für Hals- Nasen- und Ohrenerkrankungen und entdeckte durch Untersuchungen von beruflich bedingtem Hörverlust und stimmlichen Beeinträchtigungen beim Gesang, dass zwischen den Dimensionen des Hörens und Sprechens eine Wechselwirkung besteht, die den ganzen Menschen miteinbezieht. Diese Erkenntnisse wurden in den 1950er Jahren an der Akademie der Wissenschaften und an der Medizinischen Akademie von Paris unter dem Namen «Tomatis–Effekt» publiziert. Basierend auf diesem Effekt entwickelte Tomatis seine Methode, deren Wirksamkeit sich in der Praxis unter anderem dadurch zeigt, dass eine bessere Hörverarbeitung in der Regel auch mit einem besseren Gleichgewicht (z. B. der Fähigkeit auf einem Bein zu stehen) einhergeht. Wird die Methode bei Kindern angewendet spielen und lernen diese ruhiger und aufmerksamer (Doidge 2015).

Im Alter zählt Hörverlust zu den häufigsten Einschränkungen der Sinneswahrnehmungen. Hörverlust beginnt in der zweiten Lebenshälfte als natürlicher Prozess, der im Innenohr lokalisiert und durch Degeneration der Hörsinnes- und nachgeschalteten Zellen erklärt wird. Gleichzeitig nimmt die Nervenleitgeschwindigkeit ab. Als Folge sinkt die Fähigkeit, gesprochene Sprache in lauter Umgebung zu verstehen. Die sprachliche Kommunikation wird eingeschränkt. Dies hat psychosoziale Konsequenzen. Die betroffene Person muss sich stark anstrengen, um Zuhören und Sprechen zu können. Dies geht oft zuerst mit einem erhöhten Muskeltonus des ganzen Körpers einher und führt längerfristig zur körperlichen und emotionalen Erschöpfung. Durch den damit verbundenen (sozialen) Rückzug und eingeschränkten Bewegungsradius verändert sich die Bewegungsfreude. Folgen sind eine Verminderung der Muskelmasse und ein höheres Sturzrisiko. Dieser Zusammenhang gewinnt im Hinblick auf die immer älter werdende Bevölkerung zunehmend an Bedeutung. Untersuchungen gehen davon aus, dass bereits ein Hörverlust von 25 dB, das entspricht Atemgeräuschen und einem Flüstern, das Sturzrisiko erhöht (Frank et al 2012). Darüber hinaus besteht die Annahme, dass Hörverlust nicht nur zu mehr Stürzen führt, sondern durch die fehlende natürliche Stimulation des Zentralen Nervensystems auch zur Entwicklung neurokognitiver Störungen beiträgt. Das Risiko für die Verstärkung einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung steigt mit zunehmenden Hörverlust und erhöht wiederum gleichzeitig das Risiko für eine neurokognitive Störung (Kiliman et al 2014). Beginnender Hörverlust zeigt sich oft durch Symptome wie zunehmende Ermüdung, kurze Aufmerksamkeitsspannen und Vergesslichkeit, was den Symptomen einer kognitiven Einschränkung gleichkommt.

Eine Querschnittstudie

In der geriatrischen Physiotherapie werden Sturzrisiken erfasst und Massnahmen durchgeführt, die Mobilität nach Stürzen wiederherzustellen. Bei physiotherapeutischen Assessments oder dem Durchführen von Massnahmen hören die Therapeutinnen und Therapeuten häufig den Satz: «Sprechen Sie bitte lauter, ich höre nicht so gut». In Hinblick auf den Zusammenhang von Hören und Gleichgewicht zu Beginn des Lebens stellt sich aus physiotherapeutischer Sicht die Frage, ob auch im Alter ein Zusammenhang zwischen Hörverarbeitung und Bewegungsverhalten hergestellt und mit welchen Assessments dieser gemessen werden kann.

Für eine Querschnittsstudie wurden 30 Personen im Alter zwischen 22 und 93 Jahren im Umfeld der medizinischen Therapien des Pflegezentrums Entlisberg angefragt, an der vorliegenden Untersuchung teilzunehmen. Ausgeschlossen von der Teilnahme waren Personen, die nicht selbständig gehen, das Testsetting nicht verstehen und ihr Einverständnis zur Teilnahme nicht selbständig unterschreiben konnten. Als Testverfahren wurden der Dynamic Gait Index (DGI) und die Tonaudiometrie eingesetzt. Bei der statistischen Analyse kam die Spearman Partialkorrelation zur Anwendung.

Die Assessments

Für die Studie wurden das Bewegungsverhaltens im Gehen und die Hörverarbeitung beurteilt. Dazu wurden zwei Tests durchgeführt. Jeder Test dauerte ca. 15 Minuten. Der Dynamic Gait Index untersucht die Fähigkeit einer Person, das Gehen an verschiedene Erfordernisse anzupassen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Die Beurteilung findet durch Beobachtung der Testperson statt. Der DGI berücksichtigt dabei Tempowechsel, Kopfbewegungen, Ganzkörperdrehungen, über Hindernisse steigen und darum herumgehen sowie Treppen steigen. Diese qualitativen Fähigkeiten werden in vier Stufen von 0 (starke Einschränkung) bis 3 (normal) bewertet. Der Test eignet sich nicht zur alleinigen Bestimmung des Sturzrisikos. Hierfür müssen zusätzlich die individuellen Risikofaktoren einer Person erfasst und beurteilt werden.

Die Hörverarbeitung wurde mittels Tonaudiometrie untersucht. Diese misst die Fähigkeit einer Person, Töne zwischen 125 Hz und 8000 Hz zu empfangen und zu verarbeiten. Es wurde die Durchführung und Interpretation nach Tomatis gewählt. Erfasst wurden die Unterscheidbarkeit der Frequenzen von rechtem und linkem Ohr, das Verhältnis Luftleitung von rechtem und linkem Ohr, das Verhältnis Knochenleitung von rechtem und linkem Ohr, so wie das Verhältnis Luft- zu Knochenleitung von rechtem und linkem Ohr.

Die Untersuchung zeigte, dass beide Assessments von den Teilnehmenden leicht verstanden wurden und problemlos in der Durchführung waren. Aus Sicht der Studie zeigten sich die Assessments als sinnvoll und konnten im geplanten Zeitrahmen von 20 – 30 Minuten durchgeführt werden. Es wurde jeweils zuerst der Gangtest und dann der Hörtest durchgeführt.

Ergebnis

Die Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen Bewegungsverhalten und Hörverarbeitung besteht, konnte durch die Beobachtung des Ganges und Rückmeldungen zur auditiven Wahrnehmung bestätigt werden. Trotz der kleinen Stichprobe konnte ein signifikanter Zusammenhang gemessen werden.

Was heisst das konkret? Personen mit intakter Hörverarbeitung wurden beim Gehen als sicher beurteilt. Umgekehrt zeigte sich bei Personen mit eingeschränkter Gehfähigkeit auch eine Hörverarbeitungsbeeinträchtigung. Das Alter wurde in der Untersuchung zwar berücksichtigt, war jedoch nicht die Ursache für ein schlechtes Testergebnis. Auch 80-jährige Personen zeigten in beiden Tests gute Ergebnisse. Das ist erfreulich und macht Mut.

Diskussion und Ausblick

Das Innenohr als anatomische und physiologische Einheit aus Hör- und Gleichgewichtsorgan steuert und reguliert das Gleichgewicht in Kooperation mit Kleinhirn, visuellem und muskuloskelettalem System. Untersuchungen zur Fähigkeit und Komplexität des aufrechten Ganges in der Lebensspanne weisen darauf hin, dass in der ersten Lebenshälfte die Sensorik und in der zweiten Lebenshälfte vor allem das muskuloskelettale System bedeutsam sind. Es erscheint demzufolge vielversprechend, mit weiteren Untersuchungen Zusammenhänge zu identifizieren und mittels interdisziplinärer Studien die Wirkung von auditiv-therapeutischen Massnahmen, physiotherapeutischem Training und Sturzprävention zu erforschen.

Literatur

Doidge N (2015): Wie das Gehirn heilt. Campus Verlag, Frankfurt/New York.

Kilimann I, Óvari A, Hermann A, Witt G, Paul HW, Teipel S (2014): Hörstörung und Demenz. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 48(5): 440.

Lin F & Ferrucci L (2012): Hearing Loss and Falls Among Older Adults in the United States. Archives of Internal Medicine. Feb 27: 172(4): 369-371.

Schädler S (2006): Balance beim Gehen beurteilen. Physiopraxis  4(10): 40-41. http://www.igptr.ch/cms/uploads/PDF/PTR/ass_artikelserie/pp1006_DynamicGaitIndex.pdf

Schwesig R (2006): Das posturale Systemin der Lebensspanne. Schriften zur Sportwissenschaft, Band 64. Verlag Dr. Kovac, Hamburg.

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