Hausbesuche – auch in Zeiten von Corona

Corona fordert auch die Gerontologische Beratungsstelle SiL der Pflegezentren der Stadt Zürich stark. SIL (sozialmedizinische individuelle Lösungen) ist ein aufsuchendes Abklärungs- und Beratungsangebot für Menschen mit Demenz. Für die Mitarbeitenden gehört nun seit März 2020 Social Distancing, Maske tragen, auch bei Schwerhörigkeit älterer Menschen, und natürlich Hände desinfizieren auf Hausbesuchen zum Alltag. Wie gewinnen wir auf Distanz das Vertrauen unserer Klientinnen und Klienten?

Sieben SiL-Mitarbeitende führen Abklärungen bei Menschen mit Verdacht auf Demenz durch. Sie besuchen ältere Menschen zuhause, die über die Anlaufstelle des Stadtärztlichen Dienstes, den Hausarzt, Sozialdienste der Spitäler, Angehörige usw. angemeldet werden. Die Mitarbeitenden versuchen Vertrauen aufzubauen, Klientinnen und Klienten anamnestisch abzuklären und sie danach davon zu überzeugen, dass sie mit Unterstützung durch Drittpersonen länger zuhause bleiben können. Nicht immer sind die Mitarbeitenden von SiL genug überzeugend. Dann braucht es mehrere Anläufe, um dieses Vertrauen aufzubauen. Corona macht es nicht leichter – ein Beispiel dazu:

Erster Hausbesuch

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB meldet Eliane Müller (Name geändert) bei uns an aufgrund einer Gefährdungsmeldung der Spitex. Eliane Müller hatte die bereits involvierte Spitexmitarbeitenden vor die Türe gestellt. Sie fühlte sich bevormundet und hatte das Gefühl, ihre Meinung zähle nicht mehr.

Eliane Müller hat Herzprobleme und braucht entsprechende Medikamente. Die Beine sind stark geschwollen und müssen entwässert werden. Sie selber ist überzeugt, dass sie die Medikamente korrekt einnimmt. Die Spitexmitarbeitenden bemerken, dass die Medikamente nicht mehr korrekt eingenommen werden, sie jedoch den Zugang zu Eliane Müller verloren haben. Sie wenden sich mit einer Gefährdungsmeldung an die KESB.

Beim ersten unangemeldeten Hausbesuch begleitet mich eine Person der KESB. Wir können uns Zugang verschaffen bis zur Wohnungstür. Und fragen uns: Klingeln wir nun mit Maske oder besser ohne? – Wie gehen wir weiter vor, wenn wir in die Wohnung eintreten dürfen? Können wir den erforderlichen Abstand halten?

Eliane Müller öffnet die Wohnungstüre einen Spalt. Wir stehen mit Abstand davor, ohne Maske, damit sie unsere Gesichter sieht. Ich versuche, Eliane Müller zu erklären, warum wir geklingelt haben. Wir seien von der Stadt Zürich und würden gerne mit ihr über ihre Gesundheit, ihr Leben sprechen. Sie versteht mich schlecht, aber zu nahe darf ich ja nicht herantreten, da ist doch Corona. Die Frau ist abweisend und findet, wir sollen uns nicht in ihre Angelegenheiten mischen. Sie schliesst die Türe heftig und lässt uns stehen. Ich versuche es mit weiterem Klingeln und Klopfen. Doch wir hören, wie Eliane Müller Klavier spielt. Sie will uns nicht mehr hören.

Der zweite Besuch erfolgt zusammen mit dem Hauswart, auch diesmal wieder ohne Maske. Eliane Müller öffnet uns. Sie erkennt mich. Der Hauswart erklärt ihr, dass er sich wegen der Pandemie Sorgen machen würde um sie. Ob sie jemanden habe, der für sie einkaufe usw. Eliane Müller erzählt, dass es ihr gut gehe, sie zwei Kinder habe und keine Unterstützung brauche. Ich hinterlasse meine Visitenkarte. Wir gehen wieder. Wenigstens weiss ich jetzt, dass sie Kinder hat.

Annäherung

Eine Woche später erhalte ich einen Telefonanruf von Karl Müller. Er sei der Sohn von Eliane Müller. Er habe die Visitenkarte auf dem Tisch bei seiner Mutter gesehen. Er sei nicht sehr eng verbunden mit seiner Mutter. Ich erkläre ihm, warum wir von der Gerontologischen Beratungsstelle SiL einen Besuch abgestattet haben. Er sei sehr froh, dass sich jemand um seine Mutter kümmere. Er sei nicht bei seiner Mutter aufgewachsen, doch besuche er sie ab und zu. Sie sei sehr eigenwillig, wolle keine Unterstützung annehmen. Er sehe Unterstützungsbedarf auch in administrativen Angelegenheiten. Er sei froh, wenn die Stadt sich kümmere. Er begleite mich sehr gerne zu seiner Mutter. Wir vereinbaren einen Termin.

Beim dritten Hausbesuch treffe ich beim Hauseingang auf Karl Müller. Wir gehen zusammen in den zweiten Stock. Eliane Müller weiss, dass Karl und ich zu Besuch kommen. Wir klingeln, wieder ohne Maske. Sie freut sich über den Besuch. Wir dürfen eintreten. Mit Maske – ohne Maske? Eliane Müller hört sehr schlecht. Sie hat gelernt, auf die Lippen zu schauen, also eignen sich Masken schlecht. Wir setzen uns mit Distanz an den Stubentisch. Eliane Müller erzählt von ihrem Leben, hat Erinnerungslücken, die der Sohn ergänzen kann.

Schritt für Schritt

Die Unordnung aus Papieren, Kleidern, Stiften usw. auf Büro- und Stubentisch zeigen, dass die Frau die Übersicht verloren hat. Sie sagt, dass sie dringend Zahlungen machen müsse, wegen Corona könne sie doch nicht nach draussen. Ich schlage vor, sie bei diesen Aufgaben zu unterstützen, wenn sie damit einverstanden sei. Eliane Müller kann sich vorstellen, dass ich wiederkomme.

Den nächsten Hausbesuch mache ich eine Woche später in Begleitung einer Mitarbeitenden der KESB. Eliane Müller erwartet den Hausbesuch und wir dürfen eintreten. Sie versteht die Mitarbeitende der KESB auch ohne Maske schlecht. Ich versuche, die Fragen lauter zu stellen. Sollen wir mit Maske arbeiten, dafür näher zusammensitzen? – Ach, dieses Corona erschwert die Arbeit doch sehr!

Die Mitarbeitende der KESB kann sich ein Bild von Eliane Müllers Leben machen. Eliane Müller wird einen Beistand/eine Beiständin erhalten, wenn alle weiteren Abklärungen erfolgt sind. Ich vereinbare mit ihr ein weiteres Treffen. Dann würde ich mit ihr zum Arzt gehen und gleichzeitig die Rechnungen auf der Post bezahlen. Sie ist mit diesem Besuch einverstanden.

Lösungen bei grossen Belastungen

Nach weiteren Besuchen kann Eliane Müller sich einverstanden erklären, Spitexunterstützung anzunehmen. Die Spitex wird vorsichtig beginnen. Eigentlich wäre einiges zu tun, doch es ist besser, das Vertrauen zu gewinnen als wieder rausfliegen. Gerne hätte ich Eliane Müller auch in ein Tageszentrum vermittelt. Doch mit dieser zweiten Welle der Pandemie sind diese wieder geschlossen. Wenigstens ist jetzt die Spitex bei ihr akzeptiert.

Die geschlossenen Tageszentren bereiten uns Sorgen. Als wir einer Tochter mitteilen mussten, dass die Tageszentren bis Ende 2020 geschlossen werden, meinte diese:«Ou, wie schlimm. Hält das wohl meine Mutter aus mit dem demenzerkrankten Ehemann zuhause?» Die Belastung steigt sehr stark in dieser Zeit. Es gibt Anrufe von Angehörigen, die an ihre Belastungsgrenze stossen. In solchen Situationen vermitteln wir Ferien- und Temporäraufenthalte, die Angehörige gerne annehmen.

Einsamkeit ist in der Corona-Zeit ein grosses Thema. Eliane Müller fragte ich ebenfalls, wie sie sich fühle. Sie habe die Einsamkeit selbst gewählt, erklärte sie mir, sie setze sich ans Klavier, da vergehe die Einsamkeit. Nicht alle Menschen können mit Einsamkeit so umgehen, wie Eliane Müller.

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