Die Familie im Spannungsfeld von institutionalisierter Pflege und Betreuung am Lebensende

Dieser Artikel ist im Oktober 2023 in der Fachzeitschrift für Pflege und Betreuung «NOVAcura» (Ausgabe 8/2023) erschienen.

Ein Eintritt in eine Pflegeinstitution ist ein einschneidendes Erlebnis für eine Familie. Er ist einerseits geprägt von negativen Gefühlen wie Ängsten, Sorgen und Unsicherheiten. Anderseits kann er auch eine Entlastung der Familie bedeuten sowie Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. So unterschiedlich die Gründe für einen Heimeintritt sind, so verschieden sind auch die Bedürfnisse der Bewohnenden sowie ihrer Angehörigen. Wie können Institutionen Familien unterstützen?

Aufgrund des demografischen Wandels treten immer mehr hochaltrige Menschen in eine Pflegeinstitution ein. Sie sind meist polymorbid und benötigen palliative Betreuung. Häufig leiden sie an komplexen Erkrankungen wie Demenz oder Depressionen, aber auch an onkologischen Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium. Sie alle treten mit unterschiedlichen, ihrer Situation entsprechenden Bedürfnissen ein, die abgedeckt werden sollen.

Pflegebedürftig – Pflegebedarf

Der Begriff «Pflegebedürftigkeit» setzt bei Hasseler & Görres (2005) an körperlichen und kognitiven Defiziten an. Während unter «Pflegebedürftigkeit» Defizite verstanden werden, bezeichnet der «Pflegebedarf» die als erforderlich angesehenen Massnahmen (Hasseler & Görres, 2005). Der Pflegebedarf resultiert also direkt aus der Pflegebedürftigkeit. Er wird von den Pflegenden anhand von Pflegebedarfsinstrumenten ermittelt und kann von der Vorstellung des optimalen Pflegebedarfs aus Sicht der Bewohnenden und Angehörigen abweichen.

Familiensysteme

Mit einem Eintritt in eine Pflegeinstitution verändern sich die Rollen im Familiensystem. Diese Veränderungen können zu Spannungen innerhalb der Familie führen, die sich durch unterschiedliche Emotionen zeigen. Beispielsweise indem Anschuldigungen gegenüber Pflegenden geäussert werden, sich Wut entlädt oder Misstrauen bildet. Diese Emotionen sind Hürden, die sich auf die Beziehung zwischen dem Betreuungsteam und den Bewohnenden sowie ihren Angehörigen auswirken.

Bei der Erfüllung von Bedürfnissen ist es wichtig, die Bewohnenden und ihre Angehörigen als Einheit zu verstehen und sie gleichermassen zu betreuen. Sie bilden ein System oder mit anderen Worten eine «Unit of Care». In diesem Kontext stellen sich grundlegende Fragen, die laufend neu beantwortet werden müssen: Was braucht es, um allen gerecht zu werden? Wie verändern sich die Bedürfnisse während der Betreuungszeit?

Vom Eintritt bis zum Tod

Ein Eintritt in eine Pflegeinstitution führt dazu, dass die betroffene Person und ihre Angehörigen über Themen wie Alter, Krankheit und nicht zuletzt die eigene Endlichkeit nachdenken (Rüegger, 2004; Ugolini, 2006, zit. in Schmid, 2007). Je kurzfristiger der Eintritt erfolgt, desto schwieriger wird es, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Nicht selten kommt es vor, dass Bewohnende insbesondere auf der Abteilung für spezialisierte Palliative Care während den ersten Stunden bis Tagen auf der Abteilung versterben. Das ist nicht nur für die Familie sehr belastend, sondern auch für das Pflegeteam.

In einem Beispiel kam die Bewohnerin vom Spital bereits sediert zu uns ins Gesundheitszentrum, wo wir ihrem Wunsch entsprechend die terminale Sedierung beibehielten. Da wir mit der Bewohnerin selbst nicht sprechen konnten, wurde ihr Sohn telefonisch kontaktiert und nach ihren Wünschen gefragt. Der Sohn hatte das Bedürfnis, uns die Leidensgeschichte seiner Mutter zu erzählen und seine Hoffnungen zu schildern. Ihm war es zudem wichtig, dass seine Mutter nicht leiden muss. Das Gespräch war seine Bewältigungsstrategie, um mit dem raschen Tod seiner Mutter umzugehen. Einen Tag nach dem Eintritt verstarb die Bewohnerin.

Bedürfnis nach Gesprächen und Leidminderung

Auch die Bedürfnisse von Angehörigen unterscheiden sich und sind individuell. Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen. Manche Angehörige wünschen sich Informationen, andere möchten einfach für die Bewohnenden da sein und wieder andere möchten sich aktiv an der Betreuung beteiligen (Andershed & Ternestedt, 1999). So war der geschilderte Sohn stark auf Informationen angewiesen. Er wollte über die Prognose informiert werden und die Gewissheit haben, dass seine Mutter nicht leiden muss. Angehörige sind oft bereits beim Eintritt sehr stark belastet. Sie haben die kranke Person teilweise schon über mehrere Jahre begleitet. Das ist nicht einfach auszuhalten. Daher wird oftmals die Frage nach der Krankheitsprognose gestellt. Sie haben das Bedürfnis, darüber zu sprechen, wie und wann der Tod eintritt (Boucher et al., 2010; Hebert et al., 2008). Sind Angehörige über den Verlauf der Erkrankung und die Möglichkeiten der Symptomkontrolle gut informiert, betrachten sie die Betreuung als adäquat und fühlen sich gut vorbereitet auf das Sterben (Kayser, 2002). Auch die emotionale Betreuung wird von den Angehörigen als wichtig erachtet (Goodridge, Cameron & McKean, 2005).

Als Angehörige Grenzen wahrnehmen

Die Bedürfnisse der Angehörigen entwickeln sich oftmals aus Schuldgefühlen heraus. Diese äussern sich in den unterschiedlichsten Emotionen und sind Ausdruck innerer Trauer (van Wormer, 1983; Parkes, 1997; Relf, 2004, Zit in. Werkander, Roxberg & Andershed, 2007).

So musste sich eine Angehörige eingestehen, dass sie ihre Schwester, die sie jahrelang zuhause gepflegt und betreut hatte, nach einem Spitalaufenthalt nicht mehr zuhause pflegen konnte. Sie hatte starke Schuldgefühle und versuchte diese zu kompensieren, indem sie anfangs die Pflege ihrer Schwester komplett übernahm. Im Verlauf der Zeit jedoch liess sie sich von uns unterstützen.

Bedürfnis nach Tagesstruktur und sinnstiftender Beschäftigung

Während Angehörige Informationen wünschen und für die Bewohnenden da sein möchten, haben die Bewohnenden Bedürfnisse wie eine gewohnte Tagesstruktur oder eine befriedigende Beschäftigung. Eine Tagesstruktur und eine sinnstiftende Beschäftigung geben Halt sowie Orientierung und fördern das Wohlbefinden (Köppel et al., 2010). Um die Gewohnheiten der Bewohnenden zu wahren, ist es angebracht, dass sich die Tagesstruktur möglichst an ihrem ursprünglichen Alltag orientiert und sie anregend sowie kontaktfördernd gestaltet wird (Köppel et al., 2010). Dies schafft Vertrautheit, Kontinuität und Orientierung im Alltag. Manche Angehörige unternehmen gemeinsame Ausflüge oder kochen für die Bewohnenden ihre Lieblingsspeisen. So hat zum Beispiel eine thailändische Frau für ihren Ehemann täglich das Mittagessen frisch zubereitet.

Genauso wichtig wie die Tagesstruktur sind sinnstiftende Tätigkeiten, da sie das Selbstwertgefühl stärken. Als Beispiel nennen Köppel et al. (2010) die Arbeit in einem Therapiegarten. Dabei sind geplante und spontane Aktivitäten gleichermassen wertvoll.

Bedürfnis nach Ablenkung

Der Umzug in eine Pflegeinstitution kann bei Bewohnenden zu Einsamkeit führen, da es oft nicht mehr möglich ist, soziale Kontakte oder geliebte Hobbys beizubehalten. Eine ressourcenorientierte Pflege ist sinnvoll, um den Bewohnenden ihre noch vorhandenen Fähigkeiten aufzuzeigen und sie von ihren Beeinträchtigungen und Herabstufungen abzulenken.

In einem Fall litt eine Bewohnerin zunehmend unter ihrer Übelkeit und dem damit einhergehenden Appetitverlust. Im Gespräch erzählte sie uns, dass sie früher gerne unterwegs war. Nachdem ihr regelmässige Spazierfahrten im Rollstuhl angeboten wurden, ging es ihr deutlich besser und die Übelkeit war zweitrangig.

Bedürfnis nach Austausch über religiöse und kulturelle Riten

Möglichkeiten der Zuwendung und des Austauschs sowohl zwischen den Bewohnenden als auch mit den Pflegenden sind wichtig (Köppel et al., 2010). Der Austausch ist jedoch schwierig, wenn die Kommunikation beeinträchtigt ist, sei es durch kognitive Einschränkungen wie bei Demenz oder durch sprachliche Barrieren. Laut einem Bericht von Gesundheitsförderung Schweiz aus dem Jahr 2022 (Weber, 2022) sind ein Viertel der 65- bis 79-jährigen Menschen Migrantinnen und Migranten. Kulturelle bzw. religiöse Wünsche sollten rasch nach Eintritt geklärt und etwaige Grenzen der Institution aufgezeigt werden.

Da eine Bewohnerin weder Deutsch sprach noch verstand, war das Betreuungsteam stark auf Unterstützung durch ihre Familie angewiesen. Wir konnten nur über die Angehörigen mit ihr kommunizieren. So fand das Team heraus, dass die Bewohnerin gar nicht über ihre Diagnose aufgeklärt war und nicht wusste, dass sie bald sterben würde. Laut Angehörigen durfte der Arzt die Bewohnerin aus religiösen Gründen nicht aufklären. Das war für das Team ethisch sehr schwierig zu vertreten.

Bedürfnis nach Nähe und Dasein in der Sterbens- und Abschiedsphase

Im Verlauf der Erkrankung werden Ruhephasen für die Bewohnenden immer wichtiger. Die physischen Kräfte nehmen allmählich ab, auch die Bedürfnisse ändern sich. Dies ist für die Angehörigen oftmals schwer nachvollziehbar. Aber auch die Bedürfnisse der Angehörigen verlagern sich. Waren beim Eintritt Informationen wichtig und im Verlauf des Aufenthalts, einen aktiven Beitrag leisten zu können, ist es in der End-of-Life-Phase das Bedürfnis, für die sterbende Person da zu sein. Das Betreuungsteam sollte den Angehörigen wiederholt den Erkrankungsverlauf und die damit verbundenen Bedürfnisänderungen aufzeigen.

Ein Beispiel: Der sterbende Bewohner war nicht mehr ansprechbar. Sein Bruder hatte das Bedürfnis, bei ihm zu sein, und übernachtete die letzten Tage im selben Zimmer. In einem anderen Fall haben sich die Schwester und die Mutter einer 40-jährigen Bewohnerin abgewechselt bei der Betreuung. Bei diesen beiden Beispielen stand für das Betreuungsteam die emotionale Begleitung der Bewohnenden und Angehörigen im Vordergrund.

Fazit

Die Bedürfnisse der Bewohnenden und der Angehörigen verändern sich in Verlauf der Betreuungszeit. Es ist wichtig, offen zu sein für ihre Anliegen. Dazu gehört auch, dass Gespräche über Bedürfnisse frühzeitig geführt werden. Um gewohnte Tagesroutinen beibehalten zu können, ist eine Tagesstrukturierung sinnvoll. Dazu sollten Informationen proaktiv und zeitnah erfragt werden. Zudem sollen die Angehörigen Wertschätzung und Anerkennung für ihre geleistete Unterstützung erfahren und wissen, dass sie eine wertvolle Ressource sind.

Die Aufklärung der Angehörigen, was die Veränderungen der Bedürfnisse während des Erkrankungsverlaufs betrifft, ist nicht zu unterschätzen. Darüber Bescheid zu wissen, was zum normalen Sterbeprozess gehört, trägt dazu bei, sowohl den Bewohnenden als auch den Angehörigen das Abschiednehmen zu erleichtern. Das Betreuungsteam sollte in stetem Kontakt mit den Bewohnenden und ihren Familien sein. Dadurch ist es aufmerksam gegenüber Veränderungen der Bedürfnisse und kann rechtzeitig darauf reagieren.

Literatur

Andershed, B & Ternestedt, B. (1999). Involvement of relatives in care of the dying in different care cultures: development of a theoretical understanding. Nursing Science Quarterly, 12(1), 45-51 7p.

Hasseler, M. & Görres, S. (2005). Was Pflegebedürftige wirklich brauchen: Zukünftige Herausforderungen an eine bedarfsgerechte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung. Schlütersche Pflege. Schlütersche.
http://www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-89993-153-2

Köppel, R.; Imhof, L.; Koppitz, A. (2010). Erfolgreiche Praktiken in der Betreuung.
Benchlearning-Projekt 2010. ZHAW

Weber, D. (2022). Gesundheitsförderung für und mit älteren Menschen – Wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen für die Praxis. Bericht 10. Gesundheitsförderung Schweiz.

Die vollständige Literaturliste ist beim Autor erhältlich.

Beziehung

Kommentar

Lieber Herr Meier
Vielen Dank für diesen interessanten und einfühlsamen Bericht.
Beste Grüsse, R. Moeschler

Lieber Herr Meier

Herzlichen Dank für diesen sehr sorgfältigen und achtsamen Bericht.
Ich kann Ihnen in Allem nur voll und ganz zustimmen!

Beste Grüsse
Monika Laaba

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