Die «bösen Geister» lauern unter dem Bett

 Das städtische Pflegezentrum Entlisberg verfügt über pionierhafte Stationen für Alterspsychiatrie  

Von Rebekka Haefeli, erschienen am 7.4.2021 in der Neuen Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-in-der-alterspsychiatrie-braucht-es-immer-mehr-plaetze-ld.1607893?reduced=true    

Arben Duraku trägt hellgraue Hosen und ein grasgrünes T-Shirt. Er hat einen freundlichen Gesichtsausdruck und scheint ein gemütlicher Mensch zu sein – und ein Mensch mit einem dicken Fell. «Wenn dich einer mit <Arschloch> betitelt, darfst du es nicht persönlich nehmen. Aber du musst schon Grenzen setzen.» Duraku nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von seiner Arbeit spricht. Er ist der Leiter der Abteilung A02 im städtischen Pflegezentrum Entlisberg in Zürich Wollishofen. A02 ist die Übergangspflegeabteilung der Gerontopsychiatrie. Damit wird die Psychiatrie bezeichnet, die auf Menschen über 65 Jahre spezialisiert ist. «Übergangspflegeabteilung» bedeutet, dass die Patienten im besten Fall nach kurzer Zeit wieder aus der Abteilung austreten. In seltenen Fällen kehren sie nach Hause zurück, häufiger wechseln sie in ein anderes Pflegezentrum, in ein Altersheim oder eine betreute Wohngruppe. Manchmal ist aber auch eine vorübergehende Rückkehr in die Akutpsychiatrie unausweichlich.  

Von der Gesellschaft verstossen

Das Ziel auf der A02 ist, den Zustand der Patientinnen und Patienten so weit zu stabilisieren, dass sie sich nicht selber gefährden und für ihr Umfeld tragbar sind, wo immer das ist. Arben Duraku erklärt, auf seiner Abteilung seien die «Hardcore-Patienten», wobei er sich sofort für den saloppen Ausdruck entschuldigt, obschon dieser die Wahrheit recht treffend beschreibt. Es sind viele stark verhaltensauffällige Personen, die häufig eine langjährige psychiatrische Krankengeschichte hinter sich haben. Duraku erzählt, er habe sich auf die Gerontopsychiatrie spezialisiert, weil er sich wirklich interessiere für die älteren Menschen und ihre Erkrankungen. «Wir gehen auf die individuellen Geschichten der Patienten ein und versuchen, mit ihnen einen Neuanfang zu machen. Sie sollen wieder einen Sinn darin sehen, zu leben.» Viele seien am Boden, hätten in den letzten Jahren zurückgezogen und voller Ängste gelebt. «Niemand wollte mehr mit ihnen zu tun haben. Sie wurden verstossen, lebten teilweise lange isoliert.» Werden diese älteren Menschen pflegebedürftig, wird ihre verzweifelte Lage offensichtlich. Arben Duraku geht durch den breiten Korridor der Station. In einem Aufenthaltsraum sind aus der Entfernung mehrere Patienten zu sehen, die an einem Tisch sitzen; einer von ihnen ist im Rollstuhl. Im Gang kommt Duraku eine ältere Frau mit kurzem grauem Haar und hellblauen Augen entgegen: Die 83-jährige Patientin hat sich bereit erklärt, über sich zu sprechen. Sie öffnet die Tür ihres Zimmers und bittet die Besucher, mit ihr am Tisch beim Fenster Platz zu nehmen. 

Isoliert durch das Coronavirus

Ausser diesem Tisch, drei Stühlen und ein paar Einbauschränken gibt es nichts in dem Zimmer, auch kein einziges Bild an den Wänden. «Da staunen Sie, was?», fragt die Patientin keck und scheint sich über die Verblüffung des Gegenübers zu amüsieren. Sie erzählt, sie schlafe am Boden, auf einem Badetuch. «Ich fühle mich wohl da am Boden. Mir tut nichts weh, ich bin gesund. Der Arzt hat mir gesagt, ich hätte ein starkes Herz.» Mit der Hilfe des Abteilungsleiters Duraku kommt ein Gespräch in Gang. Die Frau erzählt, sie werde nachts von den Vorfahren ihres Ehemannes besucht, und diese Vorfahren misshandelten ihre Füsse. Duraku ergänzt, die Patientin denke, die «Geister» würden sich unter dem Bett verstecken, wenn es im Zimmer eines gäbe. Die Frau befindet sich seit einem Jahr in der Übergangspflegeabteilung, was nicht wirklich dem Zweck der Station entspricht. Sie sei ein Spezialfall, erklärt Duraku, sie dürfe bleiben, bis sie sterbe. Jetzt kommt die Patientin ins Erzählen: Sie habe lange eine Wohnung gesucht, sagt sie, habe sich dann freiwillig in die PUK, in die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, begeben. Nie habe sie sich etwas zuschulden kommen lassen, und die Rechnungen habe sie stets pünktlich bezahlt. «Jetzt fragen Sie mich aber bitte noch nach dem Virus», sagt sie dann unvermittelt, um gleich anzufügen: «Ich bekomme es nicht. Der liebe Gott hat mir gesagt, ich sei vor Corona geschützt.» 

Grosser Bewegungsdrang

Die Erkrankungen, unter denen die Bewohner leiden, sind vielfältig: Es sind Depressionen, Angststörungen, Schizophrenien, bipolare Störungen oder das Borderline-Syndrom. Manchmal kommt eine Demenz dazu. Einige von ihnen haben Traumata erlebt, manche leiden unter Wahnvorstellungen, hören Stimmen oder sind verwirrt. «Wir nehmen uns Zeit für sie», sagt Arben Duraku. «Wir wollen, dass es ihnen gut geht, auch wenn sie anders sind.» «Anders» wie die 46-jährige Patientin, die vom Alter her eigentlich nicht hierherpasst. Sie sitzt im Rollstuhl und ist linksseitig teilweise gelähmt, nachdem sie zwei Schlaganfälle erlitten hat. Im Gespräch mit ihr stellt sich heraus, dass sie schon in diversen psychiatrischen Einrichtungen war: Kliniken, aber auch Wohngruppen, und nirgends hat es länger geklappt. Nun ist sie hier, nach einer Anschlusslösung wird fieberhaft gesucht. Ihre eigene Wohnung mit den zwei Katzen, die ihr sehr fehlen, musste sie schon vor längerer Zeit aufgeben. Duraku erzählt, in einer anderen Einrichtung habe das Zimmer dieser Patientin gebrannt. Sie will jedoch nicht darüber sprechen, wie es dazu kam; die Hintergründe bleiben im Dunkeln. Neben der gerontopsychiatrischen Übergangsstation gibt es im Pflegezentrum Entlisberg zwei Langzeitabteilungen sowie eine Pflegewohngruppe, die auf Alterspsychiatrie spezialisiert sind. Bei allen handelt es sich um offene Abteilungen. Den Bewohnern steht es grundsätzlich frei, mit dem Lift in die Eingangshalle hinunterzufahren und nach draussen zu gehen. Die Zeit des Lockdowns war für die Patienten schwierig, denn viele haben einen grossen Bewegungsdrang. Bis heute dürfen sie das Haus nur in Begleitung von Pflegepersonal verlassen, weil einige die Abstands- und Maskenregeln wohl vergessen würden. Die 46-jährige Frau im Rollstuhl erzählt, wie schlimm das für sie sei: «Ich fühle mich gefangen. Das Virus macht einen fertig.» 

Immer älter, immer kränker

Die gerontopsychiatrischen Abteilungen im Pflegezentrum in Wollishofen sind die einzigen derartigen Stationen in städtischen Einrichtungen. In privaten Heimen dagegen gibt es Pendants. «Die Stadt Zürich setzt im Entlisberg ein innovatives Konzept um», sagt die Pflegeexpertin Eliane Baumberger, die ebenfalls hier arbeitet. «Unsere Spezialisierung schafft ein Netz für schwer psychisch Kranke, die Pflege benötigen. Wir sind eine Nische, in der sie sich getragen fühlen können.» Angefangen hat man im Pflegezentrum Entlisberg vor sieben Jahren mit 15 Betten; heute sind es über 100, die Nachfrage ist ständig gestiegen. Der Betriebsleiter Peter Schuler geht davon aus, dass der Bedarf für den Moment einigermassen gedeckt ist. Was nach Corona komme, sei schwer abzuschätzen, sagt er. Mittelfristig rechnen aber alle Experten mit einer steigenden Nachfrage: Die Bevölkerung wird älter und tendenziell pflegebedürftiger, was auch für Betroffene mit einer psychiatrischen Diagnose gilt. Dies bestätigt Egemen Savaskan, der Direktor ad interim und Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie der PUK. Die PUK ist im Gegensatz etwa zum Pflegezentrum Entlisberg eine akutpsychiatrische Klinik. Man pflege eine enge Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie dem Zentrum Entlisberg, sagt Savaskan; die PUK biete ihre konsiliarischen Dienste auch anderen Heimen im Kanton Zürich an. Savaskan erklärt, die immer älteren Leute würden multimorbider. Das bedeutet, dass viele unter somatischen und neurologischen Erkrankungen leiden, die sich auch auf die Psyche auswirken können. Wer beispielsweise gebrechlich wird, kann in eine Depression geraten, oder aber eine früher gestellte psychiatrische Diagnose wie eine Schizophrenie chronifiziert sich mit zunehmendem Alter. 

Das Recht auf Kranksein

Im Unterschied zur Psychiatrie darf in einem Pflegeheim wie dem Zentrum Entlisberg kein Zwang angewendet werden. Die Patienten können weder zur Einnahme von Medikamenten noch zum Dableiben gezwungen werden, indem man sie einschliesst. «Wir sind auf ihre Kooperation angewiesen», sagt der leitende Arzt der Gerontopsychiatrie, Rolf Goldbach, der nicht idealisieren will: «Medikamente sind Teil der Behandlung. » Gleichzeitig weist er auf die wichtige interprofessionelle Zusammenarbeit hin: Ergo- und Physiotherapie, Seelsorger und der Sozialdienst arbeiteten eng mit der Pflege und den Ärzten zusammen. Dennoch gebe es manchmal Fälle, in denen man aushalten müsse, dass sich jemand nicht helfen lassen wolle, sagt Goldbach. «Die Patienten haben auch ein Recht darauf, krank zu bleiben, wenn sie weder sich selbst akut noch andere gefährden.» Der Psychiater erinnert sich an eine Frau mit Hang zum Messietum, die verwahrlost und mit einem offenen Bein ins Pflegezentrum kam. Eine gewisse Unordnung habe man ihr im Zimmer erlaubt, und man habe eine Beziehung zu ihr aufbauen können. Nachdem sie sich geweigert habe, ihre Wunden richtig versorgen zu lassen, sei sie gestorben. 

Situationen deeskalieren

Monika Niemeyer leitet die gerontopsychiatrische Langzeitabteilung, die Abteilung A01. Wie ihr Kollege Arben Duraku scheint auch sie besonders resistent zu sein. So erzählt sie, wie sie und ihre Kolleginnen manchmal beschimpft würden oder sich zurückziehen müssten, wenn Patienten wild um sich schlügen. Die Abteilungsleiter Niemeyer und Duraku versuchen zu deeskalieren. Mithilfe eines Ampelsystems und schriftlicher Vereinbarungen versuchen sie, mit aggressiven Patienten eine Verhaltensänderung auszuhandeln. «Wir zeigen ihnen auf, dass sie nicht hierbleiben können, wenn sie nicht kooperieren. Manchmal gibt es in der Krise keine andere Lösung als die Akutpsychiatrie.» Auch in der gerontopsychiatrischen Langzeitabteilung ist eine Patientin bereit, ihre Situation zu schildern. Die Frau ist 66 Jahre alt, leidet an Parkinson und sitzt im Rollstuhl. «Es gibt Hochs und Tiefs und gute und schlechte Pfleger», sagt sie und beginnt, über ihren Alltag zu erzählen, um dann zu klagen, manche Pflegende seien ungeduldig und ausgesprochen böse mit ihr. Konfrontiert mit diesen Vorwürfen, versucht die Pflegeexpertin Eliane Baumberger nicht, sich und ihre Kollegen zu verteidigen. Vielmehr relativiert sie die Aussagen. «Krankheiten wie etwa eine Borderline-Störung führen zu unterschiedlichen Wahrnehmungen », formuliert sie neutral. Sie führt aus, manche Patienten versuchten, Aussenstehende oder Mitarbeitende zu instrumentalisieren. «Im Team kann dies zu einer schwierigen Dynamik führen. Wir sind stets sensibilisiert.» 

Herausforderung erkannt

In einem herkömmlichen Alters- oder Pflegeheim könnte man den Patienten, die im Pflegezentrum Entlisberg betreut werden, kaum gerecht werden. Sie fallen auf und ecken bei den anderen Bewohnern an. Eine Einrichtung muss willens sein, diese Betroffenen aufzunehmen, und vor allem muss sie über spezialisiertes Personal verfügen. Der PUK-Chefarzt Savaskan sagt: «Das ist ein Zukunftsthema. Wir müssen die Pflegeheime und die Weiterbildung stärken.» Eine noch ungelöste Frage sei, wie die Institutionen die zeitintensiven Pflegeleistungen kostendeckend abrechnen könnten. Die Herausforderung scheint erkannt. Die Strategie der kantonalen Gesundheitsdirektion geht im Rahmen des Versorgungsberichtes zur Spitalplanung 2023, der in der Vernehmlassung ist, ebenfalls auf die Veränderungen ein. Darin ist die Rede von einer Stärkung des stationären Angebotes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber ausdrücklich auch von einem Ausbau in der Gerontopsychiatrie.    

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