Ausweitung intergenerationeller Lebensspannen

Die erhöhte Lebenserwartung älterer Frauen und Männer hat zu einer Ausweitung der gemeinsamen Lebensspanne familialer Generationen beigetragen, namentlich bezüglich weiblicher Familienmitglieder. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur um die Hälfte der 25-Jährigen noch beide Eltern besassen, sind es zu Beginn des 21. Jahrhunderts um die neunzig Prozent.

Das Absterben der Elterngeneration – häufig zuerst des Vaters – erfolgt gegenwärtig erst im mittleren Lebensalter. Gut sechzig Prozent der 40-Jährigen haben heute noch beide Eltern und nur gut vier Prozent keine Eltern mehr (im Gegensatz zu über vierzig Prozent hundert Jahre früher). Der Verlust des letzten Elternteils erfolgt primär zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr. Auch die gemeinsame Lebensspanne von Grosseltern und Enkelkindern hat sich ausgeweitet und heutige Kinder und Teenager erleben mehrheitlich gute Beziehungen zu oft noch aktiven und gesunden Grosseltern.

Vertikalisierung familialer Verwandt­schaftsstrukturen

Kombiniert mit rückläufiger Nachkommenschaft haben die Prozesse der Ausweitung intergenerationeller Lebensspannen zu einer verstärkten Vertikalisierung der familialen Verwandt­schaftsstrukturen geführt (weniger horizontale Verwandtschaftsbeziehungen, längere gemeinsame Lebensspanne in intergenerationeller Hinsicht). Damit wurden früher seltene und rollentheoretisch zweideutige familiale Rollenkombinationen häufiger, etwa wenn eine 45-jährige Frau gleichzeitig die Mutter eines heranwachsenden Sohnes und das ‚Kind‘ betagter Eltern ist. Daraus können sich neuartige Rollenkonflikte ergeben, wie dies in der Metapher der „Sandwichgeneration“ angesprochen wird.

Dank gestiegener behinderungsfreier Lebenserwartung hat sich die Phase der Pflegebedürftigkeit alter Eltern nach hinten verschoben, so dass eine Mehrheit der Eltern erst pflegebedürftig werden, wenn die intensivste Phase des Familienlebens der nachkommenden Generation abgeschlossen ist.

Das Altern der Eltern als Vorzeichen der eigenen Zukunft

Es verbleibt jedoch die Tatsache, dass Altern und Sterben der Elterngeneration bedeutsame und durchaus ambivalent erlebte Lebensereignisse darstellen: Das Altern der Eltern ist einerseits ein Ereignis, das sich der Kontrolle und Verantwortlichkeit der inzwischen erwachsen gewordenen Töchter und Söhne weitgehend entzieht. Andererseits erzeugt es eine hohe direkte wie indirekte persönliche Betroffenheit, weil damit das eigene Altern vorgezeichnet wird.

Das Altern der Eltern ist für die nachkommende Generation sozusagen der Schatten der eigenen Zukunft, und zwar im positiven und im negativen Sinne. Ein geglücktes und glückliches Altern der eigenen Eltern stärkt die Hoffnung auf ein gleichermassen erfolgreiches Altern. Ein unglückliches oder durch körperlich-geistige Pflegebedürftigkeit beschwertes Altern von Mutter oder Vater kann Ängste vor dem eigenen Alter hervorrufen, aber auch den Wunsch und das Bestreben, sein eigenes Alter anders vorzubereiten und zu gestalten als dies bei den eigenen Eltern beobachtet wurde. Pflege alter Menschen ist häufig intergenerationell eingebettet, wobei vor allem in Stresssituationen etablierte intergenerationelle Bindungsmuster erneut in den Vordergrund treten.

Bildquelle und Literaturhinweis:
Perrig-Chiello, Pasqualina; Höpflinger, François; Kübler, Christof; Spillmann, Andreas (2012). Familienglück – was ist das? Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

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