Altersparadox? Trotz höherer Lebenszufriedenheit höhere Suizidrate im Alter!

Der Zürcher Psychiatrie-Epidemiologe Vladeta Ajdacic-Gross stellte anlässlich des 19. Zürcher Forums Prävention und Gesundheitsförderung am 1. Dezember 2014 fest, dass mit zunehmendem Alter die Lebenszufriedenheit zunimmt, der Anteil depressiver Menschen abnimmt und trotzdem die Suizidrate deutlich ansteigt, insbesondere bei Männern. Wenn die assistierten Bilanz-Suizide durch Exit und ähnliche Organisationen nicht berücksichtigt werden, ist bei Frauen kein Anstieg der Suizidrate im höheren Alter festzustellen, bei Männern aber nach wie vor. Wie ist dieses scheinbare Paradox zu erklären?

Alter: Höhere Resilienz

Ein wichtiger Faktor ist die bei den meisten alten Menschen mit zunehmender Lebenserfahrung steigende Kompetenz zur Resilienz, der Fähigkeit, die unvermeidlichen Widrigkeiten des Lebens zu verstehen, zu relativieren und schliesslich zu akzeptieren, damit gut leben zu lernen. Man kann dies als Altersweisheit bezeichnen. Dazu gehört eben auch, auf die zunehmenden Verluste, die mit dem Alter einhergehen, nicht mit Resignation oder Depression, sondern mit aktiven Bewältigungsstrategien zu antworten. Dazu gehören zum Beispiel der Vergleich mit anderen, denen es noch viel schlechter geht, die Selektion mit Optimierung und Kompensation (SOK-Modell nach Baltes und Baltes) und insbesondere die sozioemotionale Selektivität, die Carstensen als Begleitphänomen der subjektiven Nähe zum Lebensende universell festgestellt hat.

Alter: Höhere Suizidrate

Auf der anderen Seite ist das Lebensende im Alter sicher viel näher als bei Jüngeren, auch wenn das im Alltag oft verdrängt wird. Deshalb verzichtet ein alter Mensch bei einem Suizid auf weniger Lebenszeit als ein junger. Dazu kommt, dass Alterssuizide viel seltener Affekt-Kurzschlusshandlungen sind, wie sie bei Jüngeren die Regel sind. Denn tatsächlich haben viele Alte ein schönes, reiches Leben hinter sich; sie sind beim Einsetzen von Gebrechlichkeit oder gar unheilbaren Krankheiten wie metastasierendem Krebs oder immer wieder dekompensierender Herzinsuffizienz häufig der Meinung , dass in Zukunft nur noch wenig Gutes zu erwarten sei, dass sie mit einem Suizid also wenig zu verlieren hätten und dass vielleicht dank der Vermeidung von viel Leiden (trotz guter Palliativ-Medizin und -Pflege) eine positive Bilanz resultiere. Dass dabei viele Männer selber handeln und nicht vom Urteil einer Organisation abhängig sein wollen und dann eine gewalttätige Suizidart wählen, ist  in Anbetracht der heutigen Alterskohorte, bei der «selbst ist der Mann» eine tief internalisierte Lebensmaxime ist, nicht erstaunlich.

Nüchterne Bilanz = Altersweisheit, nicht Paradox!

Eine nüchterne Bilanz, in der eine Beendigung des Lebens höher bewertet wird als das weiter am Leben Hängen, kann ebenso Ausdruck von Altersweisheit sein, ist also kein Widerspruch zur weisheitsbedingten höheren Resilienz im Alter; das vermeintliche Paradox ist vielleicht gar keines. Ob die Beendigung des Lebens durch Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen im Sinne einer passiven Sterbehilfe erfolgt oder mit einem assistierten Suizid, ist im säkularen Heute eigentlich unerheblich. Denn schon heute erfolgen in der Schweiz die meisten Todesfälle nach ausdrücklicher oder unausgesprochener passiver Sterbe-Hilfe. Wer was vorzieht, ist mehr situativ und kulturell bedingt und eigentlich unerheblich. So stirbt zum Beispiel gemäss der erlebten Praxis in Dialysezentren ein Drittel aller Dialysepatienten nach ausdrücklich gewünschtem Abbruch der Dialyse. Ob das Lebensende mittels Pentobarbital von Exit, mittels terminalem Fasten oder durch Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen herbeigeführt wird, hängt vor allem von der Informiertheit und vom Charakter der betroffenen lebenssatten Menschen ab. Alle drei Formen des Sterbens werden heute zu Recht in unserer Gesellschaft breit akzeptiert, auch wenn sie aus legaler Sicht völlig andere Vorgehensweisen nach dem Tod zur Folge haben.

Alle
Dialog
Forschung

Kommentar Schreiben

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert