Text von Gabriela Bieri-Brüning, Ärztliche Direktorin und Helmut Bernt, Leiter Pflegedienst, Pflegezentren der Stadt Zürich: Die medizinische Versorgung von Bewohnerinnen und Bewohnern in Alters- und Pflegeheimen ist in der Schweiz nicht einheitlich gesetzlich geregelt und organisiert. Verschiedene Ansätze finden sich in der Praxis. Wie unterscheiden sich diese Modelle? Worin liegen die Herausforderungen? Und zu guter Letzt, was ist eigentlich eine gute ärztliche oder medizinische Versorgung in einer Langzeitpflegeinstitution?
Die Übertritte vom Spital ins Alters- und Pflegeheim finden heute früher statt. Die medizinische Situation der Patientinnen und Patienten ist immer komplexer und instabiler und bedingt höhere medizinische, pflegerische und rehabilitative Anforderungen. Zudem kommen im Pflegeheim vermehrt soziale Abklärungen hinzu, die früher im Spital gemacht wurden. Vermehrt braucht es zudem Nachsorgeaufgaben nach Spitalaufenthalten in der Übergangspflege. Schliesslich ist zu bedenken, dass heute bei etwa 70 % der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen, eine Demenz diagnostiziert ist. Um all diesen Umständen gerecht zu werden, bedarf es eines umfassenden geriatrischen Fachwissens.
Die Palliative Care stellt eine weitere Aufgabe dar. Sie schliesst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung mit ein. Gerade hier wird deutlich, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit an Bedeutung gewonnen hat (Arztdienst, Pflege, Therapien, Sozialdienst, Psychologen, Seelsorge usw.). Neu gehört auch die gerontopsychiatrische Versorgung von Heimbewohner/-innen zu den ärztlichen Herausforderungen oder die Umsetzung neuer Konzepte im Gesundheitswesen wie Advance Care Planning (Vorausplanung von Behandlung und Betreuung).
Vorgaben, Vergütung, Versorgung
Neben den fachlichen Herausforderungen sind die Ärzte und Ärztinnen mit gesetzlichen Vorgaben konfrontiert, wie beispielsweise mit den Vorgaben der Heilmittelkontrolle oder des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts.
Ungenügende Leistungsvergütung, ambulanter Tarif in stationärem Bereich und ungenügende Abgeltung des interdisziplinären Austauschs (z. B. Leistungen in Abwesenheit) stellen die grössten Herausforderungen dar.
Der voraussehbare Hausärztemangel wird ausserdem zu Versorgungsengpässen in den Heimen führen. Es gibt vermehrt eine Diskrepanz zwischen medizinischer Verantwortung und Einbindung in die Struktur des Heims (bspw. kennt die Hausärztin/der Hausarzt die Abläufe und Vorgaben des Heimes zu wenig). Heute wird die Hausärztin/der Hausarzt vom Heim oft nur im Notfall oder erst bei einer Eskalation gerufen.
Unterschiedliche kantonale Vorgaben zur ärztlichen Versorgung im Pflegeheim
Laut einer Umfrage der Kommission für Langzeitgeriatrie der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie SFGG bei den Kantonsärztinnen und -ärzten reicht das Spektrum der Vorgaben vom obligatorischem Einsitz des Heimarztes in der Direktion bis hin zu keinen Vorgaben. Die meisten Kantone in der Deutschschweiz machen jedoch keine Vorgaben und kennen keine gesetzlichen Rechte und Pflichten für die Heimärzte (Bieri-Brüning, 2013). Nur gerade neun Kantone verlangen eine/-n zuständige/-n Heimärztin/-arzt, die/der auch gemeldet werden muss. Während die Heimärztinnen und -ärzte verantwortlich zeichnen für das Erfüllen der gesetzlichen Pflichten (Hygiene, Qualifikation des Pflegepersonals), haben sie jedoch kaum Mitspracherecht.
Für den Kanton Zürich gilt, dass die ärztliche Leitung die Verantwortung für die medizinischen Belange (z. B. fachgerechte Behandlung der Patientinnen und Patienten, Organisation des Notfalldienstes, Einhaltung der Hygienevorschriften, Medikamentenbewirtschaftung trägt (Kanton Zürich Gesundheitsdirektion, 2017. Seite 6).
Im Gegensatz zu den Deutschschweizer Kantonen ist in einzelnen Kantonen der Romandie (JU, VD ) die Stellung der Heimärztin/des Heimarztes besser geregelt. Im Kanton Waadt beispielsweise, wird ein Vertrag zwischen Heim und Ärztin/Arzt verlangt, in dem auch das Entgelt (zusätzlich zu Tarmed) geregelt ist. Im Kanton Jura verlangt das Heimgesetz von der Heimärztin/vom Heimarzt Wissen zu Geriatrie, Gerontopsychiatrie und Palliative Care. Der Kanton Tessin geht am weitesten. Hier wird vorgeschrieben, dass sich die Leitung einer Institution aus einer ärztlichen Leitung («direttore sanitario») und der betrieblichen Geschäftsleitung («direttore amministrativo») zusammensetzt (Bieri-Brüning, 2013).
Modelle der ärztlichen Versorgung im Heim in der Schweiz
Die beiden gängigen Modelle der ärztlichen Versorgung sind einerseits das Hausarztmodell und andererseits das Heimarztmodell
- Hausarztmodell
Am weitesten verbreitet ist das Hausarztmodell. Jeder Hausarzt, jede Hausärztin betreut 1 – 4 Patientinnen und Patienten in mehreren Heimen. Die Stärken dieses Modells liegen darin, dass die Bewohnerin, der Bewohner den Hausarzt, die Hausärztin schon lange kennt, eine enge Beziehung besteht und das Vertrauen in einander nicht erst aufgebaut werden muss. Nachteilig sind ein hoher Aufwand für Visiten und die Betreuung in Akut- bzw. Notfallsituationen sowie die erschwerte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Für die Heime, die nach diesem Modell arbeiten, heisst es, sich auf mehrere Ärzte und Ärztinnen mit verschiedenen Haltungen und unterschiedlichem Background einzustellen und den medizinischen Betreuungsbedarf zu koordinieren.
- Heimarztmodell Schweiz
Beim Heimarztmodell sind die Ärzte und Ärztinnen im Pflegeheim angestellt bzw. vertraglich fix eingebunden. Sie sind ganz oder zu einem festgelegten Anteil im Pflegeheim tätig. Der Vorteil dieses Modells liegt in den klaren Zuständigkeiten im Betrieb, im einheitlichen Behandlungsregime inklusive rasche Versorgung in Akut- und Notfallsituationen und in der Möglichkeit der interprofessionellen Zusammenarbeit.
Dieses Modell lässt sich auch mit Hausärztinnen und Hausärzten gut organisieren. Das Heim arbeitet mit wenigen, vertraglich eingebundenen Ärztinnen und Ärzten zusammen, die sich das Haus zum Beispiel abteilungsweise aufteilen. Es können regelmässige Visiten auf den Abteilung stattfinden und die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Pflege und Ärztin/Arzt kann viel besser realisiert werden. Wenn die Ärztinnen und Ärzte ihre Visiten über die Woche verteilen, ist auch die die Notfallversorgung der übrigen Abteilungen im Haus gewährleistet. Der Hausarzt kann die Praxis an seinem Visitenhalbtag schliessen und hat damit nicht noch zusätzliche Kosten. Der Nachteil dieses Modells ist, dass ein Teil der Patientinnen und Patienten ihren Hausarzt wechseln müssen.
- Heimarztmodell des Geriatrischer Dienstes in den Pflegezentren der Stadt Zürich
Die Pflegezentren der Stadt Zürich (PZZ) bieten unterschiedlichsten Angebote der Langzeitpflege und arbeiten nach einem modifizierten Heimarztmodell. Im Arztdienst, dem Geriatrischen Dienst der Stadt Zürich, sind rund 40 Ärztinnen und Ärzte angestellt.
Der Geriatrische Dienst ist in seiner Organisationsstruktur mit der ärztlichen Struktur in Spitälern vergleichbar mit leitenden Ärztinnen/Ärzten, Oberärztinnen/-ärzten und mehreren Assistenzarztstellen. Die folgenden Fachbereiche sind im Team vertreten: Geriatrie, Gerontopsychiatrie und Allgemeine Innere Medizin. Der Geriatrische Dienst deckt den Notfall- und Nachtdienst in den PZZ ab. Er ermöglicht auch die medizinische Versorgung von Spezialabteilungen, wie der rehabilitativen Akut- und Übergangspflege, der spezialisierten medizinischen Langzeitpflege und Betreuung mit langzeitbeatmeten Personen, der spezialisierten Palliative Care oder Demenzabteilungen.
Die Einbindung des Geriatrischen Dienstes in die Organisation der Pflegezentren zeigt sich auch darin, dass die leitenden Ärztinnen und Ärzte fest in die Führungsgremien der einzelnen Pflegezentren eingebunden sind. Dies gilt auch für die Ebene der Unternehmensführung, die Chefärztin des Geriatrischen Dienstes ist als ärztliche Direktorin ebenfalls Mitglied der Direktion der Pflegezentren.
In Zukunft könnte sich dieses Modell in der heimärztlichen Versorgung bewähren, indem eine Gruppenpraxis sich darauf spezialisiert, verschiedene Heime ärztlich zu versorgen. Es wären attraktive Teilzeitpensen für Ärztinnen und Ärzte möglich. Durch Einbezug verschiedener ärztlicher Disziplinen wir Geriatrie, Gerontopsychiatrie und eine unité de doctrine könnte den Heimen eine fachlich hochstehende ärztliche Versorgung angeboten werden.
Zukunftsszenario
Eine gute Behandlungs- und Betreuungsqualität im Heim bedingt nicht nur eine gute Pflegequalität und eine gute ärztliche Versorgung. Der ausschlaggebende Faktor ist eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit v.a. zwischen Pflege und Arztdienst im Heim. Gemeinsame Fortbildungen (Demenz, Palliative Care, ACP, KESR usw.) und Entwicklung von Fachwissen sowie einer gemeinsamen Sprache unterstützt diesen Prozess und fördert den Aufbau einer gemeinsamen Haltung.
Ebenfalls zur Verbesserung der medizinischen Versorgung tragen klare Strukturen und Prozesse bei: z. B. der Ablauf von Ein- und Austritten, Familiengespräche Visiten, Notfallmanagement, interdisziplinäre Rapporte.
Die Kommission für Langzeitgeriatrie engagiert sich dafür dass die Heimarztfunktion wieder attraktiver wird. Dazu braucht es geeignete Modelle – denn das Hausarztmodell ist ein Auslaufmodell.
Vortrag gehalten an der Curaviva Fachtagung, September 2017.