«Polymedikation im Altersheim: 50 000 Senioren erhalten Pillen-Cocktail», titelte die Sonntagszeitung am 6. April 2024. Solche und ähnliche Meldungen in den Medien erregen in jüngster Zeit die Gemüter. Da stellt sich die Frage, wie gehen wir in den städtischen Gesundheitszentren für das Alter mit der Problematik der Polymedikation um? Reicht es, die Anzahl der Medikamente zu reduzieren? Oder gibt es noch andere Faktoren, die berücksichtigt werden müssen?
Grundlagen zur Polymedikation in der Langzeitpflege in der Schweiz
Seit Ende 2019 sind Alters- und Pflegeheime in der Schweiz gemäss Artikel 22a des KVG (Bundesgesetz über die Krankenversicherung) verpflichtet, Daten zur Betreuungs- und Behandlungsqualität zu erheben und zur Verfügung zu stellen. Neben der medikamentösen Behandlung werden auch Daten zu Schmerzerfassung, freiheitseinschränkenden Massnahmen, Gewichtsverlust und Mangelernährung erfasst. Diese Informationen fliessen in die nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren (mQI) ein, die eine Vergleichbarkeit der Langzeitinstitutionen in der Schweiz ermöglichen.
Die aktuell verfügbaren mQI-Daten basieren auf den Erhebungen aus dem Jahr 2022, die von rund 1279 Langzeitinstitutionen über das Bundesamt für Statistik (BFS) an das Bundesamt für Gesundheit (BAG) übermittelt wurden. Der Fokus dieses Berichts liegt auf der Problematik der Polymedikation.
Was ist Polymedikation?
Es gibt keine international anerkannte Definition für Polymedikation (Haefeli W: Polypharmazie. Swiss Med Forum 2011; 47: 847-852). In der Schweiz wird im Rahmen der mQI der Anteil der Bewohner*innen von Alters- und Pflegeheimen erfasst, die in den letzten sieben Tagen neun oder mehr Medikamente eingenommen haben.
Wie häufig tritt Polymedikation in Schweizer Alters- und Pflegeheimen auf?
2022 nahmen in Alters- und Pflegeheimen in der Schweiz 43.26 % der Bewohner*innen neun oder mehr Medikamente gleichzeitig ein. Im Jahr 2016 lag die durchschnittliche Anzahl der Medikamente pro Bewohner*in bei 9.3 Medikamenten. Etwa 11 % der Bewohner*innen nahmen sogar mehr als 15 Medikamente ein. Diese Zahlen verdeutlichen, wie verbreitet Polymedikation in der Langzeitpflege ist.
Welche Faktoren beeinflussen die Polymedikation?
Mehrere Faktoren können die Häufigkeit der Polymedikation beeinflussen:
- Polymorbidität: Die gleichzeitige Existenz mehrerer chronischer Krankheiten, was im Alter häufig vorkommt, führt zu einer höheren Anzahl an Medikamenten.
- Behandlung durch mehrere Spezialist*innen: Wenn verschiedene Fachärzt*innen beteiligt sind, ohne dass Haus- bzw. Heimärzt*innen die Übersicht behalten, birgt dies die Gefahr einer Polymedikation.
- Selbstmedikation: Oftmals nehmen Bewohner*innen zusätzlich selbst verordnete Medikamente ein, die in der ärztlichen Verordnung nicht berücksichtigt sind. Diese müssen gezielt erfragt werden, um eine vollständige Übersicht zu erhalten.
Welche Risiken birgt Polymedikation?
Jedes Medikament hat neben der gewünschten Wirkung auch unerwünschte Nebenwirkungen. Wenn diese als Symptome einer neuen Krankheit missinterpretiert werden, könnten unnötigerweise weitere Medikamente verschrieben werden – dies führt zu einer Verordnungskaskade.
Medikamenteninteraktionen sind ein weiteres Risiko. Ab einer bestimmten Anzahl von Medikamenten können Wechselwirkungen nicht mehr zuverlässig vorhergesagt werden.
Die Erfahrung zeigt, dass die Compliance sinkt, je mehr Medikamente verschrieben werden. Die Arzneimittel werden erst gar nicht eingenommen bzw. weggeworfen.
Nicht zuletzt verursachen unnötig verschriebene Medikamente direkte und indirekte Gesundheitskosten, welche die Finanzierbarkeit der Langzeitpflege belasten.
Spezielle Herausforderungen der Polymedikation im Alter
Mit zunehmendem Alter verändern sich der Körperwasseranteil, die Nierenfunktion und die Fettverteilung. Diese physiologischen Veränderungen haben Auswirkungen auf die Arzneimittelverarbeitung im Körper. Besonders wasserlösliche Medikamente können sich stärker im Körper anreichern, während fettlösliche Medikamente eine verlängerte Wirkungsdauer haben können. Zusammen mit einer Verminderung der Rezeptorendichte kann dies zu einer höheren Empfindlichkeit gegenüber Medikamenten und zu einer gesteigerten Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Nebenwirkungen führen.
Solche Nebenwirkungen können zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen wie Stürzen, Mangelernährung, Inkontinenz und/oder Delir führen. Im schlimmsten Fall erhöhen sie das Risiko für Hospitalisationen oder führen sogar zu einer erhöhten Sterblichkeit.
Warum reicht es nicht, einfach die Anzahl der Medikamente zu reduzieren?
Es gilt zu erkennen, welche Medikamente lebensnotwendig sind und welche zur Linderung von Symptomen und damit zur Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt werden. Aufgrund der erhöhten Medikamentenempfindlichkeit im Alter kann es sinnvoll sein, die Dosierung einzelner Medikamente zu reduzieren, ohne die Anzahl der Medikamente zu verringern. Dies hilft, die Nebenwirkungsrate zu senken, ohne die Wirksamkeit zu verlieren. Diese Massnahme ist jedoch in den mQI-Daten nicht ersichtlich, da sich diese ausschliesslich auf die Anzahl der Wirkstoffe beschränkt.
Wie steht es um die Polymedikation in Gesundheitszentren für das Alter?
In den städtischen Gesundheitszentren für das Alter ist die medizinische Situation der Bewohner*innen heute oftmals komplexer und instabiler als noch vor einigen Jahren. Dies bedingt eine laufende Anpassung der medikamentösen Einstellung der Bewohner*innen. Dabei ist es wichtig, die Situation mit einem «geriatrischen Blick» zu prüfen.
Wie kann eine sinnvolle Reduktion der Polymedikation erreicht werden?
Eine sinnvolle Reduktion oder das Absetzen von Medikamenten erfordert geriatrisch-medizinisches Fachwissen. Dabei müssen nicht nur die medizinischen, sondern auch die ethischen und psychosozialen Aspekte berücksichtigt werden, einschliesslich der Wünsche der Bewohner*innen und ihrer Angehörigen.
- Fokus auf die Lebensqualität: Gesundheitsprobleme, welche die Selbstständigkeit und das Wohlbefinden beeinträchtigen, sollten vorrangig behandelt werden. Die blosse Lebensverlängerung ist nicht immer das vorrangige Ziel.
- Einschätzung der Lebenserwartung: Medikamente zur reinen Prävention, also Verhinderung von möglichen Komplikationen, sind aufgrund der kürzeren Lebenserwartung oftmals nicht mehr indiziert.
- Verschiedene Hilfsmittel, z. B. «PRISCUS»-Liste. Die Liste enthält Medikamente, die bei älteren Menschen potenziell schädlich sind, und schlägt Alternativen vor. Dies kann ein hilfreiches Instrument zur Medikationsevaluation sein.
Wie kann der Prozess der Medikationsevaluation konkret aussehen?
Während der regelmässigen Visiten wird die Indikation für jedes Medikament überprüft: Jedes Medikament sollte eine diagnostische Grundlage haben, aber nicht jede Diagnose erfordert automatisch ein Medikament.
Die Medikation wird individuell auf Bewohner*innen und unter Einbezug des Pflegepersonals regelmässig an den aktuellen Bedarf angepasst. Insbesondere Schmerzmittel und Psychopharmaka werden fortlaufend auf ihre Wirksamkeit hin überprüft.
Bei jeder Neu-Verordnung muss man sich bewusst sein, dass es oft einfacher ist, ein Medikament neu zu verordnen als es zu einem späteren Zeitpunkt wieder abzusetzen.
Wo immer möglich, werden nicht-medikamentöse Alternativen wie menschliche Zuwendung oder Aktivierung in Betracht gezogen. Regelmässige Schulungen und Medikamentenreviews helfen, das Thema stets im Fokus zu behalten.
Fazit: Polymedikation als Herausforderung und Chance
Polymedikation ist ein häufiges Problem in der Langzeitpflege, das jedoch nicht nur durch die blosse Reduzierung der Anzahl der Medikamente gelöst werden kann. Eine ganzheitliche Betrachtung, die neben den oftmals komplexen Krankheitsbildern auch die Lebensqualität und die Wünsche der Bewohner*innen einbezieht, ist entscheidend, um eine sinnvolle und sichere Medikation zu gewährleisten.