Palliative Care und Demenz – es bleiben offene Fragen

Palliative Care ist heute ein Begriff. Das Konzept will Menschen mit unheilbaren, fortschreitenden Krankheiten möglichst lange eine gute Lebensqualität ermöglichen. Entstanden ist es in der Begleitung von Menschen mit onkologischen Diagnosen. Eher zögerlich hat es im Laufe der Jahre auch in der Betreuung alter, multimorbider und oft von einer Demenzerkrankung betroffener Menschen Eingang gefunden. Die Integration von Palliative Care in die geriatrische, und im Besonderen in die Demenzversorgung, beschäftigt mich seit Jahren. Vieles was wir tun beruht auf Annahmen und Interpretationen – ein paar kritische Gedanken und Fragen dazu möchte ich mit Ihnen teilen.

Lebensqualität

Lebensqualität ist immer ein subjektives Erleben, also sehr individuell. Und sie kann nur von jedem einzelnen selbst definiert werden – nicht von Qualitätsexpertinnen oder-experten. «Was ist wichtig für mich persönlich, damit mein Leben lebenswert ist und bleibt?» Die WHO nimmt die individuellen functional abilities als Grundlage: «das sein und tun können, was mir wichtig und wertvoll ist». Grundlage zur Annäherung an die persönlichen Vorstellungen des Gegenübers bildet für uns als Pflegende oder Ärztinnen/Ärzte das Gespräch mit dem alten Menschen über seine Werte und Ziele, über seine Einschränkungen und Symptome, die seine Lebensqualität beeinträchtigen. Kommunikation ist und bleibt die Basis guter Palliative Care und ist wichtiger als alle Assessment-Instrumente.

Im Laufe einer Demenzkrankheit wird die Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen zunehmend eingeschränkt, sie können sich immer weniger verbal zu ihrem Befinden äussern. Das dürfte der Hauptgrund sein, weshalb sich Palliative Care für Menschen mit Demenz eher fragmentarisch, mit dem Hauptfokus auf Symptomlinderung, entwickelte. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde ein Schwerpunkt auf das Thema Schmerzerfassung und -therapie gelegt. Sicher berechtigt, denn viele Studien hatten gezeigt, dass demenzkranke Menschen deutlich weniger Schmerzmittel erhalten als nicht demente. Der Zusammenhang von auffälligem Verhalten und Schmerzen wurde mehrfach nachgewiesen. Instrumente zur Beobachtung des Verhaltens wurden implementiert und die regelmässige Verabreichung von Schmerzmitteln, auch Opiaten, stieg an.

Der Einsatz von Opiaten

Die Frage stellt sich, ob eine grosszügige Opiatverordnung gleichbedeutend ist mit besserer Lebensqualität, ob wir die Qualität der palliativen Versorgung von Demenzpatientinnen und -patienten an der Häufigkeit der Opiatverschreibung messen können. Eine kürzlich erschienene Studie von Wilco Achterberg und Kolleginnen hat festgehalten, dass wegen fehlender klinischer Evidenz keine demenzspezifischen Behandlungs-Guidelines für Schmerzen existieren und dass es grosse geographische und kulturelle Unterschiede gibt: In Polen erhalten nur 3% der kognitiv eingeschränkten Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen ein Opiat, in Norwegen sind es 24% und in Österreich 50%! In Dänemark wurde nachgewiesen, dass die Opiatverschreibungen an Demenzkranke von Gemeinde zu Gemeinde um einen Faktor 4 (!) variieren, bei nicht dementen Menschen hingegen nur um den Faktor 1,6.

Haben die demenzbetroffenen Menschen in Österreich die beste Lebensqualität, ist der hohe Opiatgebrauch Ausdruck einer hohen Qualität der palliativen Versorgung? Warum finden sich so grosse regionale Unterschiede? Die Verfügbarkeit von Opiaten spielt sicher eine Rolle. Aber das klärt die grossen kommunalen Unterschiede in Dänemark nicht. Was könnte sonst noch hinter diesen Differenzen stehen?

Ich erlaube mir ein paar persönliche Interpretationsversuche:

  • Der geschilderte Zusammenhang von auffälligem Verhalten und Schmerzen führt tendenziell dazu, Veränderungen im Verhalten primär mit Opiaten zu behandeln. Neuropsychiatrische Probleme werden nicht mehr differenziert analysiert und vielschichtig angegangen.
  • Opiate haben ein besseres Image als Psychopharmaka und werden bewusst oder unbewusst als sedierende Massnahme eingesetzt.
  • Eine begonnene Opiattherapie wird bezüglich Indikation kaum mehr hinterfragt und bei Dementen höchst selten wieder abgesetzt.
  • Die Annahme, «wenigstens hat sie/er sicher keine Schmerzen», beruhigt das Team bei komplexen Betreuungsherausforderungen und reduziert das Gefühl der Hilflosigkeit.
  • Die Unterschiede in Dänemark legen nahe, dass wahrscheinlich Vieles von der Einstellung einzelner Fachpersonen abhängt.

Palliative Betreuungsansätze

Wenn der Einsatz von Opiaten nicht automatisch mehr Lebensqualität garantiert, stellt sich die Frage, was wir in der Pflege und Begleitung von demenzkranken Menschen tun können, um Lebensqualität zu ermöglichen. Palliative Care ist in erster Linie eine Haltung. Cicely Saunders, als Begründerin der Hospizbewegung, hat diese Haltung auf den Punkt gebracht: «Du bist wichtig, weil du DU bist!» Wie übersetzen wir diese Haltung in die tägliche Arbeit? Hier ein paar Möglichkeiten:

  • Stärkung des Selbstwertgefühls: Der Mensch hat ein zentrales Bedürfnis der Bestätigung. Auch Demenzkranke möchten das Gefühl erleben, nützlich und akzeptiert zu sein.
  • Wahrung der Autonomie: Dem Erleben vonSelbstwirksamkeit, eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, Mitbestimmung im Rahmen der Möglichkeiten Raum geben.
  • Sicherheit vermitteln: Gewohnheiten, Rituale aus dem bisherigen Leben können Geborgenheit und Sicherheit vermitteln.
  • Positive Emotionen ermöglichen: Humor, Freude, Lachen, Zufriedenheit sind wichtige Trigger für aktuelles Wohlbefinden.
  • Zugehörigkeit erleben können: Teil des Familienlebens, des Freundeskreises und letztlich der Gesellschaft zu sein.  Nicht ausgegrenzt, sondern sich akzeptiert zu fühlen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wenn die Heimat in Raum und Zeit verlorengegangen ist, wird die Heimat in vertrauten Beziehungen umso wichtiger.
  • Lieben und geliebt werden: Nähe erleben zu anderen Menschen. Zuneigung erfahren und anderen Zuneigung zeigen können ist ein elementares Bedürfnis menschlichen Seins und gibt Lebenssinn.
  • Lust und Genuss, Sinnlichkeit: Wenn wir uns etwas Gutes tun wollen, haben wir individuelle Vorlieben wie gutes Essen, Zärtlichkeit, Musik usw. Demenzkranken geht es nicht anders: Ein schöner Anblick, ein betörender Geruch, ein geliebtes Mahl, ein tolles Musikstück oder eine Umarmung bedeuten Lebensqualität.
  • Vermeidung negativer Emotionen: Kein Mensch schätzt es, blossgestellt zu werden. Angst, Scham, Versagensgefühle und Überforderung des dementen Menschen sind unbedingt zu vermeiden.
  • Verzicht auf Zwänge: Niemand schätzt es, zu einer Handlung gezwungen zu werden. Bei Dementen kann dies in den Aktivitäten des täglichen Lebens wie Essen, Duschen, Toilettengang sein.

Fazit

Was will ich mit meinen Überlegungen anstossen? Palliative Care für Menschen mit Demenz ist viel mehr als die Implementation von Handlungsanweisungen für das Symptom-Management. Es ist ein Feld der Kreativität, des Reflektierens und der menschlichen Zuwendung. Ich bin gespannt auf Ihre Reaktionen und Erfahrungen!

Literatur:

Achterberg Wilco P et al. Are Chronic Pain Patients with Dementia being undermedicated? Journal of Pain Research 2021:14; 431-39.

Kojer M, Schmidl M, Heimerl K. Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis. Springer 2022 (3.Aufl).

WHO. World Report on ageing and health, 2015.

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Kommentar

Sehr geehrter Herr Kunz

Ich finde es sehr spannend, dass es im Einsatz von Opiaten so grosse Unterschiede gibt. Bezüglich ihren Betreuungsansätzen kann ich aus Erfahrung voll und ganz hinter diesen stehen. Sie spiegeln das wieder was erwünscht ist und auch sinnvoll im Umgang mit an Demenzbetroffenen. Apropos spiegeln. Ich habe mich im Sommer mit dem Thema Spiegelneuronen und deren Bedeutung im Umgang mit Menschen mit Demenz (NovaCura) auseinandergesetzt und bin auf ähnliche Ansätze gekommen.

Ich bin immer wieder gespannt etwas von Ihnen zu lesen und haben Sie doch für das Waidspital so viel bewirken können. Vielen Dank dafür.

Freundliche Grüsse eine schöne Weihnachtszeit und ein tolles 2023

C. Braunschweiger

Vielen Dank Herr Braunschweiger für Ihren Kommentar und die Wünsche. Ich wünsche auch Ihnen viel Energie, in diesem wichtigen Themenfeld aktiv zu bleiben – und daneben Momente der Ruhe und der Zeit für sich selbst!

Herzliche Grüsse
Roland Kunz

Grüezi Herr Kunz
Vor kurzem hat mir ein Freund ans Herz gelegt, dass er nie ein Opiat möchte, weil er Angst vor einem Bad/Horrortrip hat. Ich bin überzeugt, dass das bei seiner Konstellation so eintreffen würde…
Gibt es dazu Erkenntnisse, Erfahrungen oder Studien?
Vielen Dank und schöne Zeit
L.Brücker

Grüezi Frau Brücker
In der Palliativmedizin werden Opiate wenn möglich als kontinuierliche Gabe eingesetzt (retardierte Präparate oder kontinuierliche bzw. regelmässige parenterale s/c Verabreichung). Darunter sehen wir nie negative Folgen wie Sie es ansprechen, höchstens eine meist vorübergehende Müdigkeit. psychotrope Nebenwirkungen sind nur bei i.v-Anwendungen möglich, wenn eine grössere Dosis sehr plötzlich in den Kreislauf gelangt, aber auch dann sind sie äusserst selten und eher im euphorisierenden Sinn. Bad-/Horrortrips sind bei den zur Schmerzbehandlung eingesetzten Opiaten nicht bekannt und treten eher bei Drogen auf, die nicht auf Opiatbasis beruhen.
Freundliche Grüsse
Roland Kunz

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