Menschen mit Demenz und die Pandemie

Die derzeitige Pandemie-Situation mit vielen neuen Anordnungen, Kontaktbeschränkungen, Abstandsregeln und Tragen von Schutzmasken verunsichert Menschen mit Demenz. Sie können die Notwendigkeit dieser Einschränkungen nicht oder nicht vollumfänglich verstehen oder vergessen die erhaltenen Informationen gleich wieder und sind deshalb stets aufs Neue damit konfrontiert. Für sie ist die Umwelt befremdlich geworden und Routinen haben sich verändert. Sie spüren eventuell auch Angespanntheit von Angehörigen und Personal. Es entstehen Ängste und Sorgen, die sich in unterschiedlichsten Verhaltensweisen äussern können.

Die kognitiven Einschränkungen von Menschen mit Demenz führen ausserdem dazu, dass die Gefahren nicht eingeschätzt und das Verhalten nicht entsprechend angepasst werden kann. Viele Menschen mit Demenz können die geforderten Hygiene- und Verhaltensregeln nicht selbständig oder überhaupt nicht übernehmen. Die Einhaltung der Schutzmassnahmen muss dann von anderen sichergestellt werden. Wenn dies im Widerspruch zu den Bedürfnissen des Menschen mit Demenz steht, können belastende Situationen für alle Beteiligten entstehen.

Es ist notwendig und äusserst anspruchsvoll zwischen der Einhaltung der Regeln und den Bedürfnissen der Person mit Demenz abzuwägen und demenzsensible Entscheidungen zu treffen. Ausserdem ist es in dieser herausfordernden Zeit besonders wichtig, Menschen mit Demenz Normalität, Sicherheit und Ruhe zu vermitteln. Das ist leicht geschrieben, doch was heisst das im Alltag?

Wie können wir Menschen mit Demenz schützen?

Menschen mit Demenz auf unseren spezialisierten Abteilungen können meist keine Maske tragen und suchen Nähe und Kontakt. In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen nehme ich Sorgen wahr. Eine grosse Verantwortung lastet auf den Schultern der Pflegenden. Sie begleiten die Menschen mit Demenz zum Teil schon seit Jahren und niemand möchte sie, sich selber oder seine Familie anstecken. Das Wissen, dass trotz aller Vorsichtsmassnahmen Ansteckungen möglich sind, respektive geschehen, macht die Sorgen nicht kleiner. Das Einhalten der Hygienemassnahmen bei der Arbeit aber auch im Privatleben hat oberste Priorität von Seite der Pflegenden. Das Vermeiden von Händeschütteln, Distanzregeln einhalten, ohne das Gegenüber zu brüskieren, ist eine Kunst; ständig eine Maske tragen und darauf zu achten, mit den Händen nicht ins Gesicht zu fassen, kostet Kraft. Sich gegenseitig unterstützen bei der Einhaltung, sich kurze Freiräume schaffen (an die frische Luft gehen, durchatmen, Spass haben, sich was Gutes tun) und die Belastungen und Sorgen im Team ansprechen sind unterstützende Massnahmen.

Die neue Normalität

Erna Müller[i] sieht den Arzt und streckt ihm freudestrahlend die Hand entgegen: «Grüezi, Herr Doktor.» Der Arzt weist Frau Müller darauf hin, dass Hände schütteln im Moment nicht möglich ist. Verdutzt schaut sie ihre Hand an, der Gesichtsausdruck wird traurig: «Ich bin nicht schmutzig.»

Ich begleite Monika Meier in die Besucherzone. Dort warten der so vermisste Ehemann und die Tochter. Monika Meier reisst die Maske vom Gesicht, rennt auf den Ehemann zu, möchte ihn umarmen und küssen. Als er abweisend reagiert, die Tochter sie zurückhält und sie auffordert Abstand zu halten, beginnt sie zu weinen und äussert: «Ich habe gewusst, du hast eine andere.»

Robert Kramer setzt sich wie fast täglich beim Rapport in die Runde dazu. Er schaut sich um und fragt verwundert: «Was habt Ihr denn alle für einen Fetzen Papier im Gesicht? Ein Virus, so schlimm, seid Ihr alle krank? Und was ist mit mir? Bin ich auch krank? Wo ist mein Fetzen?» Die erhaltene Maske reisst er nach 10 Sekunden herunter: «So en Seich!» – und verlässt wütend die Runde, die ihm sonst so viel Ruhe gegeben hat.


[i] Alle Namen der Beispiele wurden geändert

Mit den Augen lächeln

Diese Beispiele aus dem Alltag zeigen auf, wie die Corona bedingten Veränderungen sich auf die emotionale Befindlichkeit von Menschen mit Demenz auswirken können. Wie lange habe ich selber gebraucht, bis ich das ganz automatisierte Hinstrecken der Hand bei der Begrüssung unterdrücken konnte? Ich habe unterdessen Freude daran, im Familien- und Freundeskreis neue Begrüssungsrituale zu entwickeln, und habe festgestellt, dass dies durchaus auch eine Möglichkeit ist bei Menschen mit Demenz. Wenn ich mich eher seitlich nähere und nicht frontal auf sie zugehe, wird die Maske weniger wahrgenommen und die Hand weniger ausgestreckt. Individuelle Begrüssungsrituale können gemeinsam entwickelt werden. So schätzt Erna Müller die Berührungsgeste am Oberarm und Robert Kramer und ich begrüssen uns jetzt bei jeder Begegnung salutierend.

Die Kommunikation ist durch die Maske erschwert, Worte sind weniger gut verständlich, die Mimik fällt weg. Dies versuche ich zu ergänzen mit Gestik und ausgeprägtem Nutzen der Augenpartie. Erstaunlich, was die Augenbrauen so alles können, und lächeln ist auch mit den Augen möglich.

Humor kann hilfreich sein um mit dieser herausfordernden Situation spielerisch umzugehen, die sich für den Menschen mit Demenz nicht mit Vernunft lösen lässt. Walter Müller überzeugt seine Ehefrau ihre Maske anzuziehen, wenn er mit ihr draussen spazieren geht, indem er sie auf die Kälte hinweist und die wärmende Nasenkappe dagegen hilft. Die neue Normalität mit kreativen Ideen in den Alltag zu integrieren, neue Rituale und Routinen zu entwickeln, das hat neben all den Schwierigkeiten auch etwas Spannendes.

Kontaktpflege mit den Angehörigen

Während des Besuchsverbots im letzten Jahr vermissten viele Menschen mit Demenz ihre Angehörigen schmerzlich. Unsere intensiven Bemühungen mit Aktivierungsangeboten, Spaziergängen und hoher Präsenz bei den Menschen mit Demenz konnten dies teilweise etwas lindern, jedoch auf keinen Fall ersetzen. Anrufe und Videocalls waren nicht für alle Menschen mit Demenz möglich. Frau Meier erschrak, wie klein ihre Tochter plötzlich war, verstand teilweise nicht, woher die bekannte Stimme kam und suchte nach ihr. Für die Tochter war die Möglichkeit, per Videocall bei der Nachmittagsaktivität mit ihrer Mutter zuschauen zu können, eine Beruhigung, wenn auch kein Ersatz für einen Besuch.

Fazit

Die Situation der Pandemie fordert uns alle und wird uns wohl auch noch länger fordern. Die hohe Wichtigkeit von Hygiene-Massnahmen und Abstand halten muss die Bedeutung von sozialen Kontakten und dem Bedürfnis nach Nähe für Menschen mit und ohne Demenz berücksichtigen.

Literatur

Eine Gruppe ethisch engagierter Fachleute im Schweizerischen Gesundheitswesen hat zum Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege 10 Postulate formuliert.

Ackermann, S., Baumann Hölzle, R., Biller Andorno, N., Krones, T., Meier-Allmendinger, D., Monteverde, S., Rohr, S., Schaffert-Witvliet, B., Stocker, R. & Weidmann-Hügle, T. (2020). Pandemie: Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege. Schweizerische Ärztezeitung, 843–845. https://doi.org/10.4414/saez.2020.19037

Bieri-Brüning, G., Beck, S., Schibli, A. & Geschwindner, H. (2020). COVID-19: Erfahrungen aus den Pflegezentren der Stadt Zürich. Schweizerische Ärztezeitung, 743–745. https://doi.org/10.4414/saez.2020.18943

Coronavirus. (2021, 5. Januar). Kanton Zürich. https://www.zh.ch/de/gesundheit/coronavirus.html#-1310230111

Mukerji, N., Mannino, A. (2020). Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit. Reclam.

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