Essen ist eine Sprache, die wir auch ohne Worte verstehen

In jedem Alter müssen wir essen; und in jedem Alter verstehen wir auch die Botschaften des Essens. Essen vermittelt Bedeutungen, Inhalte, Codes, die wir auch ohne ein dabei ausgesprochenes Wort erfassen.

Diese Zeichen des Essens können wir auf unterschiedlichen Ebenen entschlüsseln, wir «verstehen» diese Botschaft körperlich, rational und emotional; rational als Vermittlung von Nährstoffen, sozial als Hinwendung zu uns, emotional als Angebot einer Beziehung, einer Anteilnahme und Fürsorge. Dabei ist es eben nicht nur das Essen, die Speise an sich, sondern vielmehr die Art der Speisenpräsentation, des Ambientes und den daran beteiligten Personen, die wichtige Botschaften vermitteln, die für uns so bedeutend sind. Es sind diese die emotionalen Botschaften des Essens, sie signalisieren: «ich mag dich», «ich sorge für dich», «du bist mir wichtig», «du bist als Mensch angenommen», «ich bin jetzt für dich da». Diese «Sprache der Bedeutungen» sind genauso zum Leben und zur Gesunderhaltung notwendig, wie die in den Speisen enthaltenen Nährstoffe.  

Essen als Botschaft

Lebenslang müssen wir zu unserem Überleben essen und trinken, und zwar in regelmässigen Abständen, in ausreichenden Mengen und einer ausgewogenen Zusammensetzung. Essen ist mehr als die blosse Versorgung des Körpers mit den notwendigen Nährstoffen und Energie liefernden Nahrungsbestandteilen. Essen umfasst immer auch, an den sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Umwelt teilzunehmen, Essen schafft Nähe, Fürsorge und Geborgenheit, Essen kann damit eine Botschaft sein, da es eine besondere Form der Zuwendung, Liebe und Aufmerksamkeit ausdrücken kann.

Wir werden in eine Welt hineingeboren, wir erlernen in einem Sozialisationsprozess, welche Speisen kulturell als wertvoll, gering, erstrebenswert oder verabscheuungswürdig erachtet werden. Wir bekommen auch vermittelt, wie eine Speise also solche aussehen sollte, wie sie zu schmecken hat und lernen auch die Zeitstruktur einer Speise kennen. Auch Gerüche, Geschmack, die Optik, die Haptik, die Temperatur der Speisen sind dabei wichtig.

Entscheidend aber sind die Mitmenschen dabei, sie machen Essen erst zu diesem besonderen sozialen Erleben, ermöglichen es mir, mich als «Mensch unter Menschen» zu erleben und verschaffen mir da auch ein Gefühl des Miteinanders, einem gemeinsamen statt einsamen Erleben. Erst das Zusammenspiel dieser verschiedenen Aspekte macht für uns eine Speise als solche erkennbar: das Frühstück, mit einem entsprechenden Tischgeschirr, der Kaffee in einer Tasse, das Gipfeli, das dazu gegessen wird auf dem Teller oder die roten, gelben, orangen Konfitüren, die rein optisch betrachtet als Erdbeere, Zitrone oder Aprikose gedeutet werden können. Diese vielschichtigen «Botschaften», diese Bedeutungen, sind sozial und kulturell erlernt, wir «verstehen» sie und deuten sie meist auch entsprechend. Ohne diese «Ernährungssozialisation» können wir keine «sichere» Auswahl treffen, wissen nicht, was essbar ist und was nicht, kennen die Bedeutung der Speisen nicht. So essen, schmecken, riechen, sehen, entschlüsseln wir die Speisen immer im Kontext bereits gesammelter kultureller Erfahrungen (unserer Eltern und Vorfahren), vertrauen auf deren Kenntnisse und Bedeutungszuschreibungen, das Essen wird uns damit «vertraut». Wir nehmen die Signale der Umgebung auf, die Personen, die uns diese Informationen vermitteln, die uns spiegeln, wie wir diese subjektiven Empfindungen zu deuten und zu benennen haben. Dabei helfen uns bestimmte Farben, Formen, Gerüche, Mitmenschen oder auch die optischen Eindrücke eines gedeckten Tisches, die Speisen zu verstehen und die damit verbundene Botschaft zu entschlüsseln. So die Hinweise auf die Tageszeit, die Saisonalität, den besonderen Anlass, den Ort usw.

Was, wenn wir die Botschaften nicht mehr verstehen?

Was aber, wenn wir die Zeichen nicht mehr deuten können? Nicht mehr verstehen, was damit gemeint ist? Wenn die Welt, in der ich mich bewege, eine andere, nicht mehr vertraute geworden ist?

Hypothetisch soll das aufgezeigt werden, wenn wir uns auf folgendes Gedankenspiel einlassen: Wie schwer würde es für uns sein, uns hungrig und in einem völlig anderen Land wiederzufinden, wo uns nicht nur die Landessprache, sondern auch die «Sprache des Essens» unbekannt ist. Dadurch können wir weder entschlüsseln, was uns da serviert wird, da die Speisen ungewohnt riechen und aussehen, noch haben wir einen Hinweis, wie wir es zu essen haben (z.B. mit den Händen, Besteck, Stäbchen), oder in welchen Reihenfolgen und zu welchen Anlässen wir diese Speisen essen sollen. Wie hilfreich, wenn uns dann andere Menschen zeigen, wie sie das tun und wir dadurch lernen können, die Speisen «zu verstehen».

Geschmack und Geruch als Botschaft von Zugehörigkeit und Geschmacksheimat

Geschmackswahrnehmung ist immer verknüpft mit situativen und emotionalen Erlebnissen. Essen «schmeckt» immer auch im Kontext, ist eine ganzheitliche Erfahrung, wird begleitet von Gefühlen, situativen Aspekten und Erinnerungen. Geschmackswahrnehmungen sind somit Teil einer sozialen und kulturellen Interaktion mit der Umwelt.

Essen drückt eine Beziehungsebene aus, die ich «wortlos» verstehe. Wird Essen unter Zeitdruck, mit Anspannung serviert und angereicht, werde ich dies auch wahrnehmen und «verstehen» als eine Haltung zu mir. Die Botschaft, «ich hab’ nicht viel Zeit für dich» werde ich unmittelbar stärker wahrnehmen als die blossen Worte, die das Essen begleiten. Wir sind evolutionär hervorragend ausgestattet, diese «analoge Sprache» zu verstehen und ihr mehr Gewicht zu geben als den dabei gesprochenen Worten. Kinder achten zuerst auf das, was die Erwachsenen tun und nicht, auf das, was diese sagen.

Schon früh haben wir im Verlaufe unseres Lebens den kulturell erwünschten Geschmack des Essens kennen gelernt, haben bereits in der Kindheit Gewohnheiten und Geschmackserfahrungen gesammelt, die uns das ganze Leben begleiten. So hat der Geschmack des Essens auch immer einen Bezug zur eigenen Biografie, ist Ausdruck von Erinnerungen und Erfahrungen, die im Moment des Essens und Schmeckens wieder lebendig werden können.

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Kommentar

Sehr schön geschriebener Artikel über das Essen . Viele Aspekte des Essens als emotionales und kulturelles Gut werden angesprochen und gut beschrieben

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