Digitalität in Alters- und Pflegeheimen: Den Stier bei den Hörnern packen oder wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren? Wir haben die Wahl!

Alters- und Pflegeheime sind zunehmend mit Digitalisierungs- und Technologisierungsfragen konfrontiert – und damit herausgefordert. Das Bürgerspital Basel hat sich der Herausforderung gestellt und liess sich basierend auf systematisch erarbeiteten Grundlagen zusammen mit einem interdisziplinären Team der ZHAW auf einen multiperspektivischen Dialog ein. Die Erkenntnisse fliessen nun in eine neue digitale Roadmap ein.

Technologischer, gesellschaftlicher und organisationaler Wandel…

Durch die zunehmende Nutzung digitaler Technologien verändern sich unser Alltag und unser Umgang miteinander: Wir sind besser vernetzt, erwarten massgeschneiderte Angebote und legen mehr Wert auf persönliche Gestaltungsmöglichkeiten. Das hat auch Auswirkungen auf Organisationen. Während es früher bei technischen Entwicklungen vor allem darum ging, Abläufe zu vereinheitlichen, Effizienz zu steigern und dabei Kosten zu senken, stehen heute Automatisierung, Individualisierung und Gewährleistung von Flexibilität im Vordergrund. Die Organisationen müssen also ihre Strukturen und Arbeitsweisen anpassen, um mit diesen Veränderungen Schritt zu halten. Digitale Technologien bieten ihnen neue Möglichkeiten, ihre Abläufe und Zusammenarbeit grundlegend neu zu denken und zu gestalten.

…betrifft auch Alters- und Pflegeheime!

Alters- und Pflegeheime (APH) haben in der Vergangenheit kaum eine technologische Innovations- und Vorreiterrolle eingenommen. Zunehmend machen aber die oben beschriebenen Veränderungen den APH zu schaffen und es tritt vielerorts die Erkenntnis ein, dass das Thema angegangen werden muss. Gesellschaftlich betrachtet sind beispielsweise immer mehr junge Digital Natives im Arbeitsmarkt beschäftigt. Im Zuge des Fachkräftemangels kann die Attraktivität als innovative*r Arbeitgeber*in mithilfe von zeitgemässer Technologie und dem Einsatz von nutzerfreundlichen, digitalen Planungstools erhöht werden. Passende Kollaborationsplattformen können den Wissensaustausch unterstützen und nötige Informationen und Daten teil- und verfügbar machen. Zudem verlaufen aktuell Robotikentwicklungen zur Unterstützung von Personal wie auch Bewohnenden im Alltag rasant. Zunehmend sind auch ältere Personen mit Laptop, Tablet oder smarten medizinischen Apps und Hilfsgeräten unterwegs. Gleichzeitig herrschen in vielen APH oft historisch gewachsene, unübersichtliche Softwarelandschaften vor. Es ist oft nicht genau geklärt, inwiefern persönliche Devices im Pflegealltag eingesetzt werden sollen und dürfen, und die unterschiedlichen digitalen und technologischen Maturitäten der verschiedenen Involvierten sind schwierig zu handhaben. Dazu kommen viele teilweise ungeklärte Datenschutz- und Ethikthemen in einem hoch regulierten medizinischen Umfeld.

Digitalisierungspotenzial nutzen und ausschöpfen – aber wie?

Das Bürgerspital Basel (BSB) hat sich entschieden, das Thema intensiv und systematisch anzugehen. Es hat das ZHAW Kompetenzzentrum für Technologien in der Gesundheitsversorgung (ZHAW gekont) beauftragt zu untersuchen, wie die Digitalisierung und Technologisierung im eigenen Betrieb ausgeschöpft und die Arbeit für alle Mitarbeitenden optimal unterstützt sowie die zukünftigen Bedürfnisse der Bewohnenden berücksichtigt werden können.

Einblick in den Tagesworkshop (Quelle: ZHAW GEKONT)

Zum Einsatz kam ein interprofessionelles Forschungs- und Entwicklungsteam, bestehend aus den Disziplinen Hospitality-/Service Management, Pflege, Kommunikation und Administration/Management. Nach einer umfassenden Dokumentenanalyse führte das Team 22 kontextuelle Interviews und teilnehmende Beobachtungen mit Mitarbeitenden in verschieden Funktionen und aus unterschiedlichen Bereichen an einem Standort im BSB durch. Ergänzend wurden fünf Expert*inneninterviews mit weiteren Personen der Organisation geführt. Nach einer Zwischenpräsentation der Ergebnisse an das Management ging es in einen intensiven Workshop mit rund 20 Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Bereichen (Geschäfts-/Heimleitung, Pflege/Aktivierung, Küche/Hotellerie, Hauswirtschaft, Kommunikation, Administration) und Hierarchiestufen (strategisch, taktisch, operativ). Während eines intensiven Tages wurden basierend auf den Ergebnissen gemeinsam Verbesserungsaspekte im Arbeitsalltag in Bezug auf die Digitalisierung erarbeitet.

Auf dieser Basis konnte das ZHAW-Team insgesamt 56 Vorschläge für Digitalisierungs- und Technologisierungs-Aktionen der unterschiedlichen Funktionsbereiche am BSB formulieren. Dabei wurde angegeben, ob es sich um ein Innovationspotenzial handelt (und ob dabei die ZHAW als potenzielle F&E-Partnerin bei der Umsetzung in Frage käme), ob mit anderen Projektpartner*innen / Beratungen weitergeplant werden müsste oder ob es sich um «Hausaufgaben» für das BSB handelt. Zudem wurde mit der Übertragung in eine Matrix das eingeschätzte Verhältnis von Aufwand (Kosten und Zeit) und Impact als Entscheidungsunterstützung illustriert. Die Resultate wurden in einer Schlusspräsentation dem Management übergeben. Die Ergebnisse fliessen nach dieser rund einjährigen Projektdauer aktuell in die Erarbeitung einer digitalen Roadmap ein.

Der Einbezug von unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven ist zentral!

Im Projekt zeigten sich verschiedene Herausforderungen. Eine Schwierigkeit war der Bedarf der z. T. gleichzeitigen Verfügbarkeit von unterschiedlichen Fachpersonen, insbesondere für den Tagesworkshop. Herausfordernd war auch, die unterschiedlichen Werte, Berufsalltage, Erwartungen und Widerstände zusammenzuführen und eine gemeinsame Bearbeitungsbasis und Sprache zu finden. Die systematische Grundlagenerarbeitung, die iterative Kombination von unterschiedlichen Methoden und die transparent und multidisziplinär erarbeiteten Einschätzungen, unter Einbezug der Bedürfnisse aller Stakeholdergruppen haben sich dabei als Erfolgsfaktor erwiesen. Im Prozess konnten alle Beteiligten einerseits eigene Haltungen und Befürchtungen äussern und in die Diskussion einfliessen lassen, andererseits aber auch im Dialog mit anderen dazulernen und Ängste abbauen. Der Weg in Richtung Digitalisierung und Technologisierung ist für viele APH noch weit. Das BSB hat sich der Herausforderung gestellt und ist durch diesen begleitenden Prozess einen bedeutenden Digitalitäts-Schritt weitergekommen.

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