Ein lebendiges Nachbarschaftsleben ist für ältere Menschen in Alterssiedlungen wichtig. Es macht sie autonomer, lässt sie Selbstwirksamkeit erfahren und verbessert dadurch ihre Lebensqualität.
Wie gelingt es, eine Beteiligungskultur in Alterssiedlungen herzustellen? Und wie können sich Personen einbringen, die dies gerne möchten, bisher jedoch wenig erreicht wurden? Diesen Fragen ging ein von der Age-Stiftung gefördertes Forschungs- und Entwicklungsprojekt des Instituts für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW in fünf verschiedenen Siedlungen mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen (städtischer vs. ländlicher Kontext, mit und ohne Siedlungsassistenz) nach.
Unterschiedliche Bedürfnisse
Herr Meier ist 92-jährig und teilt mit, dass er sich nicht vor der Gemeinschaft verschliesse, aber auch nicht immer und überall dabei sein müsse. Frau Helbling, 89-jährig, würde gerne mehr am Gemeinschaftsleben in ihrer Alterssiedlung teilnehmen, kann den Gesprächen an Veranstaltungen in der Siedlung aufgrund ihrer Hörbehinderung aber nicht mehr so gut folgen: «Aber ich kann mich einfach nicht mehr beteiligen. Ich bin dann still und esse». Frau Engler, 77-jährig möchte sich gerne bei gewissen Aktivitäten in der Siedlung einbringen, aber es ist ihr wichtig, selbst zu entscheiden, wann und bei was: «Nicht, dass ich das Gefühl habe, ich werde fast gezwungen, es sei fast obligatorisch».
Die Zitate aus den Gesprächen zeigen, dass die Bedürfnisse und Ressourcen der einzelnen Bewohner*innen von Alterssiedlungen in Bezug auf Beteiligung und Kontakte am Wohnort unterschiedlich sind. Sie zu kennen, ist der erste Schritt, wenn Trägerschaften oder Siedlungsverantwortliche Beteiligung in ihren Siedlungen fördern möchten. Mit «Alterssiedlungen» sind dabei Wohnformen gemeint, die sich spezifisch an die ältere Bevölkerung richten und in welchen die Bewohner*innen selbstständig in ihrer eigenen Wohnung leben.
Was heisst Beteiligung?
Doch was heisst «Beteiligung» bzw. «Partizipation». Wir haben uns an einem einfachen Stufenmodell orientiert, bei welchem der erste Schritt für Beteiligung ist, informiert zu werden. Dies ist zugleich Voraussetzung für alle weiteren Partizipationsstufen und setzt voraus, dass die Informationen adressat*innengerecht aufbereitet sind. Ein weiterer Schritt ist «die Anhörung». Hierfür müssen die Rahmenbedingungen stimmen, dass auch eine Äusserung tatsächlich möglich ist (bspw. geeignete Zeiten und Räumlichkeiten sowie eine vertrauensvolle Atmosphäre). Der nächste Schritt ist «Mitbestimmen oder Mitentscheiden». Erfahrungsgemäss werden den Beteiligten Angebote für Aktivitäten gemacht, jedoch eher selten werden sie dabei aktiv und von Anfang an einbezogen. Für die Übernahme von Entscheidungs- und Handlungsmacht braucht es Kompetenzen, die durch geeignete Ressourcen gesichert werden müssen, und es braucht Zeit, um einen Lernprozess in Gang zu setzen. Die höchste Stufe von Partizipation wäre dann die «Selbstorganisation oder Selbstverwaltung».
Wir vertraten während der gesamten Laufzeit des Projekts die Haltung, dass Beteiligung auf Freiwilligkeit basiert. Niemand soll zu Beteiligung gezwungen werden. Jede Person hat das Recht, sich nicht zu beteiligen, respektive die Art und Weise, wie sie sich beteiligen will, selbst zu bestimmen. Der 77-jährige Herr Weber beispielsweise gibt zu verstehen: «Ich mache gerne irgendwo mit, aber ich würde keine Führungsaufgabe mehr übernehmen. Ich möchte nun eher konsumieren.»
Förderliche und hinderliche Faktoren für Beteiligung
Die Praxis ist vielfältig und komplex. Die Ergebnisse zeigen, dass es keine einzig richtige Lösung für die Umsetzung eines partizipativen Prozesses in Alterssiedlungen gibt, dass es aber förderliche und hinderliche Faktoren für die Entwicklung einer Beteiligungskultur gibt.
Die folgenden sechs Schritte zur Förderung einer Beteiligungskultur bieten Entscheidungsträger*innen und Fachpersonen in Alterssiedlungen eine hilfreiche Orientierung:
1) in einem ersten Schritt gilt es, die Bedürfnisse der Bewohnerschaft und die Geschichte der Siedlung zu verstehen, 2) ein gemeinsames Verständnis von Beteiligung zu entwickeln, 3) wenn möglich Siedlungsassistenzen einzubeziehen, 4) Räume zur Verfügung zu stellen, 5) der Bewohnerschaft zu ermöglichen, Partizipation durch Partizipation zu lernen, 6) Ausdauer zu haben sowie 7) den Blick nach aussen zu richten, d.h. sich mit Trägerschaften und Angeboten ausserhalb der Siedlung zu vernetzen.
Beteiligungsprozesse sind anspruchsvoll, d.h. es läuft nicht alles rund. Knacknüsse der Beteiligung sind: a) dass nicht alle beteiligungsgewillten Personen erreicht werden und partizipieren können, b) wenn niemand Verantwortung für Arbeitsgruppen oder Aktivitäten übernehmen möchte, c) wenn alle Verantwortung an Einzelpersonen hängt oder d) wenn es Konflikte und Missverständnisse gibt. Herausforderungen sind nicht zu vermeiden, und sie sind siedlungsspezifisch anzugehen.
Aus den gesammelten Erfahrungen im Projekt ist ein Leitfaden für Fachpersonen, ein Erfahrungsbericht sowie ein Wandbehang mit Ideenkarten für Bewohner*innen von Alterssiedlungen entstanden. Die Ideenkarten sind auch in digitaler Version erhältlich.
Im nächsten Beitrag auf unserem Gerontologieblog stellen wir Ihnen ein Partizipationsprojekt der Gesundheitszentren für das Alter und der Stiftung Alterswohnungen der Stadt vor.