Ältere Personen in Zeiten der Corona-Pandemie – vergessen und stigmatisiert?

Unser aller Alltag ist von der aktuellen Corona-Pandemie (COVID-19) geprägt; täglich lesen wir die neusten Zahlen der Corona-bedingt erkrankten Personen und diskutieren öffentlich, welche Massnahmen die besten sind, um einen unkontrollierbaren Anstieg der Fallzahlen zu vermeiden. Welches Bild des Alters wird gezeichnet, wenn von «Risikogruppen» die Rede ist? Was können wir zur Differenzierung beitragen, und was lehren uns die Erfahrungen aus dem Lock-Down?

Was erleben wir derzeit?

Im Rahmen der verschiedensten nationalen wie internationalen Massnahmen sind seit Anbeginn der Pandemie insbesondere ältere Menschen ab 65 Jahren als «besonders gefährdete Gruppe» deklariert worden (Bundesamt für Gesundheit, 2020); insbesondere ihnen wurde nahegelegt, sich besonders vorsichtig zu verhalten. Direkte Kontakte, Menschenansammlungen und gesellige Abende ausser Haus sollten, nicht nur zur Zeit des Lockdowns, tunlichst vermieden werden. Ältere Menschen fanden/finden sich somit in einem Alltag wieder, der einerseits durch die Beschränkung/Unterbrechung direkter sozialer Kontakte und Einschränkungen der Ausser-Haus-Mobilität geprägt war (Hwang et al., 2020), der aber andererseits auch zu einer kritischen Reflexion des eigenen Alters führen konnte, da diese Personen nun mit allen anderen über 65-Jährigen als homogene «Risikogruppe» angesehen wurden. Dies kann dazu führen – was die aktuellen Corona-spezifischen nationalen Studien empirisch noch zeigen müssen –, dass sich ältere Menschen nicht nur physisch isoliert fühl(t)en, sondern auch subjektiv einsam und «betroffen». Hier ist eine pauschale «Betroffenheit» gemeint, die nicht die heterogene Vielfalt des Alters abbildet, sondern das Altersbild einer homogenen Gruppe von «Fragilen» – ein in der Gerontologie seit langem überholtes Bild (Ayalon et al., 2020). Sich in diesem Altersbild wiederzufinden, kann nicht nur gesellschaftlich zu einer Altersdiskriminierung führen, sondern individuell bei jeder Person selbst zu einer negativen Selbstwahrnehmung (Losada-Baltar et al., 2020). 

Was wird derzeit in der Forschungswelt hierzu diskutiert?

Mit Beginn der Corona-Pandemie wurde noch einmal deutlich, dass ältere Menschen oft als gemeinsame «65+-Risikogruppe» angesehen werden, was zwar aus Sicht der Schweizer Regierung und des Bundesamtes für Gesundheit hinsichtlich der altersbedingten Multimorbidität, der erhöhten COVID-19-Sterblichkeitsrate und des generellen Schutzgedankens (Masserey 2020) zunächst Sinn macht, aber aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerechtfertigt ist (Perrig-Chiello, 2020). Alle über 65-Jährigen pauschal zu einer Gruppe zu zählen, vernachlässigt die Heterogenität des Alters und die Vielfalt der Lebensentwürfe, Lebenssituationen und Lebensstile älterer Menschen. Zudem birgt eine so einseitige Sichtweise die Gefahr, dass ein Altersbild zementiert wird, das längst nicht mehr der empirischen und lebensweltlichen Realität entspricht. Wenn alle älteren Menschen pauschal als alt, krank, fragil und hilflos stigmatisiert werden, wird ein Altersbild bestärkt, das diese Gruppe als «gesellschaftliche Last» (Perrig-Chiello, 2020) ansieht; ein Bild, das vielen in der Altersarbeit und Altersforschung tätigen Personen Sorgen bereitet, weil es die Altersdiskriminierung fördert und die Beziehungen zwischen Jung und Alt belastet – und dies in einer ohnehin bereits angespannten Zeit. 

Auf der anderen Seite zeigt die Pandemie aber auch, dass die Solidarität zwischen den Generationen innerhalb von Familien und nachbarschaftlichen Beziehungen durch die Krise eher gestärkt worden ist. Hier sind beispielsweise kreative Lösungen zu nennen, wie das Vernetzen via Telefon, um z. B. Einkäufe für eine ältere Nachbarin bzw. einen älteren Nachbarn zu erledigen. Solche Initiativen haben gezeigt, welches Potenzial in lokalen Sozialräumen vorhanden ist (Seifert, 2020; Höpflinger, 2020). Hierbei stellt sich insbesondere die Frage: Wie können wir denjenigen helfen, die mit der Krise mehr zu hadern haben als andere? Was können wir für die tun, die isoliert sind bzw. sich einsam fühlen und Hilfe benötigen? Hier kann die praktische soziale Gerontologie mit ihren Möglichkeiten der Intervention und Koordination ansetzen.

Diese und weitere Fragen sollten nicht nur diskutiert werden, sondern mit empirischen Daten belegt werden. Jedoch zeigt die Pandemie auch, dass es hierzu noch wenig belastbares Material gibt. Vermutlich werden wir aus der Retrospektive heraus mehr gelernt haben, jedoch sollten wir bereits jetzt damit anfangen zu verstehen, was die Pandemie mit älteren Menschen macht und wie die praktische Gerontologie darauf reagieren kann. 

Was sollte innerhalb der Gerontologie diskutiert werden?

Die soziale Arbeit kann einerseits ihren Beitrag für eine gesellschaftliche Diskussion zum Thema «Altersbilder» und «Alt sein in einer Krise» liefern, indem sie die Vielfalt des Alter(n)s beleuchtet und deutlich macht, dass das «Alter» oftmals nicht die entscheidende «Deklaration» ist, sondern die im Alter sich zum Teil zementierende soziale Ungleichheit von Personen mit und ohne finanzielle(n), soziale(n), individuelle(n), körperliche(n) und kognitive(n) Ressourcen. Vielfalt des Alters heisst dann eben nicht, dass alle die Krise gleich gut oder gleich schlecht «überstehen» werden, sondern dass es markante Unterschiede zwischen den Menschen geben wird. Ältere Personen, die besonders unter der Pandemie bzw. den damit verbundenen Schutzmassnahmen der physischen Distanzierung leiden, sollten aus der grossen Gruppe der über 65-Jährigen als Zielgruppe herausgefiltert werden. Jedoch ist es bekannterweise oft das Problem, gerade jene zu erreichen, die nicht in der Öffentlichkeit präsent sind und die nicht laut nach Unterstützung rufen (König et al., 2014). Hier macht es Sinn, diese Gruppe durch eine lebensweltpraktische, aufsuchende gerontologische Sozialarbeit zu erkennen und anzusprechen. 

Andererseits kann die Gerontologie genau dort ansetzen, wo sich derzeit ein Quell an Solidarität zeigt – sprich in der nahräumlichen Versorgung älterer Menschen im Quartier. Auch wenn sich schnell neue informelle und formelle Hilfsnetzwerke etabliert haben, so wird erst die Zeit nach Corona zeigen, inwieweit diese Netzwerke bestehen bleiben. Hier sollte angesetzt werden, um fragile Netzwerke zu unterstützen, z. B. in Form eines Quartiermanagements oder der Koordination von Nachbarschaftshilfen. Es bedarf daher bereits jetzt Ideen und Konzepten, wie das in der Pandemie entfachte ehrenamtliche Potenzial weiter genutzt werden kann. Hierbei darf aber nicht der Trugschluss entstehen, dass diese Hilfe immer einseitig anzusehen ist, also dass der ältere Mensch immer als Hilfeempfänger gilt. Vielmehr zeigen Studien (z. B. Seifert und König, 2019) immer wieder, dass nachbarschaftliche Hilfen gegenseitig stattfinden, also es ein Geben und Nehmen ist; gerade dieses Geben und Nehmen erhöht die soziale Kohäsion im Quartier (Cramm et al., 2013). 

Literatur

  • Ayalon, Liat, Chasteen, Alison, Diehl, Manfred, Levy, Becca R., Neupert, Shevaun D., Rothermund, Klaus., Tesch-Römer, Clemens, & Wahl, Hans-Werner. (2020). Aging in Times of the COVID-19 Pandemic: Avoiding Ageism and Fostering Intergenerational Solidarity. The Journals of Gerontology: Series B, gbaa051. https://doi.org/10.1093/geronb/gbaa051
  • Bundesamt für Gesundheit. (2020). Neues Coronavirus: Besonders gefährdete Personen. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/besonders-gefaehrdete-menschen.html
  • Cramm, Jane M., van Dijk, Hanna M., & Nieboer, Anna P. (2013). The Importance of Neighborhood Social Cohesion and Social Capital for the Well Being of Older Adults in the Community. The Gerontologist 53: 142–152.
  • Höpflinger, François. (2020). Werden Menschen über 65 diskriminiert? https://www.begh.ch/francois-hoepflinger. Zugegriffen: 30. Juli 2020.
  • Hwang, Tzung-Jeng, Kiran Rabheru, Carmelle Peisah, William Reichman, & Ikeda, Manabu. (2020). Loneliness and Social Isolation during the COVID-19 Pandemic. International Psychogeriatrics https://doi.org/10.1017/S1041610220000988.
  • König, Jana, Anke Strube, & Hanesch, Walter. (2014). Zugangswege zu älteren Menschen in benachteiligten Lebenslagen. In: Monika Alisch (Hrsg.), Älter werden im Quartier: soziale Nachhaltigkeit durch Selbstorganisation und Teilhabe, Kassel: Kassel Univ. Press, S. 109–126.
  • Losada-Baltar, Andrés, Jiménez-Gonzalo, Lucía, Gallego-Alberto, Laura, Pedroso-Chaparro, María del S., Fernandes-Pires, José, & Márquez-González, María. (2020). “We Are Staying at Home.” Association of Self-perceptions of Aging, Personal and Family Resources, and Loneliness With Psychological Distress During the Lock-Down Period of COVID-19. The Journals of Gerontology: Series B, gbaa048. https://doi.org/10.1093/geronb/gbaa048.
  • Masserey, Virginie. (2020). Werden Menschen über 65 diskriminiert? https://www.begh.ch/virginie-masserey. Zugegriffen: 30. Juli 2020.
  • Perrig-Chiello, Pasqualina. (2020). Werden Menschen über 65 diskriminiert? https://www.begh.ch/perrig-chiello. Zugegriffen: 30. Juli 2020.
  • Seifert, Alexander. (2020). Nachbarschaft und Wohlbefinden – auch zu Zeiten der Pandemie. GERONTOLOGIE CH 1: 4–5.
  • Seifert, Alexander & König, Ronny. (2019). Help From and Help to Neighbors Among Older Adults in Europe. Frontiers in Sociology 4: 46.
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