Sich in berufsethischen Spannungsfeldern zu bewegen, gehört für Fachpersonen in Institutionen des Alters zum Alltag – insbesondere, wenn es um problematische Konsummuster oder Abhängigkeiten geht. Weshalb spielt die eigene Haltung dabei so eine zentrale Rolle? Das zeigt dieser Artikel anhand der Erfahrungen des Gesundheitszentrums für das Alter Entlisberg.
Im Berufsalltag in Altersinstitutionen gibt es immer wieder Momente, die aus ethischer Sicht herausfordernd sein können. In solchen Situationen kann es zu Wertekonflikten oder zu Spannungsfeldern zwischen der Wahrung der Selbstständigkeit von Patient*innen und dem Grad des Eingreifens von fachlicher Seite kommen (z.B. Ermöglichen des Konsums vs. Prinzip des Nicht-Schadens). Die Auseinandersetzung mit ethischen Grundprinzipien und der eigenen Haltung bildet eine zentrale Grundlage bei der Entscheidungsfindung.
Weshalb und wo Haltung eine Rolle spielt
In Zusammenhang mit älteren Menschen und Abhängigkeiten gibt es hinsichtlich Berufsethik bestimmte Aspekte, die zu Herausforderungen führen können und deshalb besonders bedeutsam sind. So etwa das Respektieren der Autonomie von Patient*innen, das Abschätzen ihrer Urteilsfähigkeit, das Fällen von gerechten Entscheidungen nach dem Gleichheitsprinzip (z.B. Sicherstellen, dass alle Zugang zu angemessenen Leistungen des Gesundheitswesen haben) oder eben die eigene Haltung.
Die Haltung ist die innere Grundeinstellung, die von der eigenen Biographie und Identität geprägt ist und das eigene Denken und Handeln beeinflusst; so etwa auch ein Abwägen von ethischen Prinzipien (z.B. Autonomie – Fürsorge). In Zusammenhang mit Konsum und Abhängigkeiten bringt man als Fachperson vielleicht auch eigene Erfahrungen mit – weil man z.B. bestimmte Konsummuster bei sich selbst oder einer nahestehenden Person erlebt hat. Umso wichtiger ist es, die eigene Haltung und deren Ursprünge gut zu reflektieren.
Erarbeitung eines berufsethischen Leitfadens
In einer Bedarfserhebung, die der Fachverband 2021 durchführte, hat sich gezeigt, dass Heim- und Hausärzt*innen insbesondere im Bereich Berufsethik und Haltungsfragen Bedarf an entsprechenden Instrumenten haben. Deshalb hat der Fachverband Sucht eine Arbeitsgruppe einberufen, die sich aus Fachpersonen der Suchtmedizin, der Hausarztmedizin, der Alterspsychiatrie, der Sozialen Arbeit und dem Pflegebereich zusammensetzte. Mit dabei waren auch zwei Experten aus dem Gesundheitszentrum für das Alter Entlisberg. Aus der Zusammenarbeit entstand ein berufsethischer Leitfaden mit Empfehlungen zum Umgang mit älteren Menschen mit einer Abhängigkeit.
Wichtigste Erkenntnisse und Empfehlungen
Der Leitfaden umfasst verschiedene Empfehlungen zum Umgang mit älteren Menschen – auf struktureller und individueller Ebene.
Die Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen und Strukturen hilft, Herausforderungen in der Praxis besser zu bewältigen. Dazu gehören z.B. ein Konzept oder Leitbild, externer und interner Austausch, Einbezug von Fachpersonen (z.B. aus der Suchthilfe) oder das Solidaritätsprinzip, also der Schutz der Gemeinschaft in Institutionen mit Mitpatient*innen.
Auf der individuellen Ebene gibt es ebenfalls Ansätze zur Auseinandersetzung mit der Berufsethik und der eigenen Haltung, um Wertekonflikte oder Spannungsfelder im Bereich «ältere Menschen mit einer Abhängigkeit» anzugehen. Dazu gehört z.B. das Berücksichtigen der Autonomie, also dass Selbstbestimmung und die Integrität von Patient*innen stets respektiert werden, um die Würde einer Person zu wahren; aber auch die Selbstreflexion sowie klare, verständliche Kommunikation innerhalb des Teams und gegenüber Patient*innen sind beispielsweise auf der individuellen Ebene anzusiedeln, genauso wie der Einbezug von Expert*innen oder Angehörigen.
Im Leitfaden wird detaillierter auf die eigene Haltung und weitere Empfehlungen für die Praxis eingegangen. Auch werden mögliche Grundsatzfragen zur Selbstreflexion präsentiert:


Der Leitfaden ist auch in die Haltungsfindung des Gesundheitszentrums Entlisberg eingeflossen. Morris Vock, Sozialarbeiter beim Gesundheitszentrum Entlisberg, gibt im Interview einen Einblick in seine Arbeit mit älteren Menschen (mit einer Abhängigkeit) und seinen Umgang mit ethischen Spannungsfeldern.
Blick in die Praxis – Interview mit Morris Vock
Sie beschäftigen sich sicherlich schon länger mit der eigenen Haltung: Hat sich Ihre Haltung im Laufe der Zeit verändert? Und wenn ja, inwiefern?
Meine Haltung hat sich im Laufe der Jahre nicht nur verändert, sondern weiterentwickelt. Eine Haltung ist niemals endgültig, sondern unterliegt einer kontinuierlichen Veränderung. Früher hatte ich Schwierigkeiten damit, Menschen direkt auf kritische Themen wie Konsumverhalten anzusprechen und entsprechende Fragen zu stellen. Heute bin ich der Überzeugung, dass durch Interesse und offene Kommunikation wertvolle Beziehungen entstehen können. Diese Entwicklung meiner Haltung resultierte aus anfänglichen Hemmungen und persönlichen Erfahrungen im privaten Umfeld. Es ist möglich, seine Haltung durch Selbstreflexion und den Mut, Neues auszuprobieren, weiterzuentwickeln. Der Aspekt der Selbstreflexion wird auch im Leitfaden des Fachverbands Sucht behandelt und ist eine Empfehlung für die Praxis.
Ich bin der Ansicht, dass eine klare Haltung sowohl dem eigenen Denken und Handeln Sicherheit und Vertrauen verleiht als auch dem Umfeld – sei es das interprofessionelle Team oder die betreuten Personen. Die Haltung fungiert als eine Art innerer Kompass.
Mit Blick in den Leitfaden: Was wurde vom Gesundheitszentrum Entlisberg übernommen, was nicht? Was wurde bereits so gemacht?
Nach eingehender Betrachtung des Leitfadens wird deutlich, wie eng dessen Empfehlungen mit unserem täglichen Handeln im Gesundheitszentrum Entlisberg verknüpft sind. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns stark weiterentwickelt und dabei eine Art «Schwarmintelligenz» etabliert – ein Prozess, in dem wir kontinuierlich voneinander lernen. Ein wesentliches Element dabei ist, dass Entscheidungen stets gemeinsam getroffen und anschliessend von allen Mitarbeitenden konsequent vertreten werden. Diese einheitliche Haltung schafft für die Bewohner*innen eine Atmosphäre von Sicherheit und Vertrauen, die für die Qualität der Betreuung essenziell ist.
Das Thema Haltung nimmt im Leitfaden einen besonderen Platz ein. Die darin enthaltenen Empfehlungen wurden von uns bewusst und gezielt in den Alltag integriert und fördern gezielt unsere gemeinschaftliche Lern- und Entscheidungskultur. Darüber hinaus haben wir ein eigenes Konzept zum Thema «Sucht» entwickelt, das nicht nur theoretische Hintergründe vermittelt, sondern auch konkrete Arbeitsinstrumente für die tägliche Praxis zur Verfügung stellt. Gerade für unseren neu eröffneten Wohnbereich mit dem Schwerpunkt Abhängigkeiten hat sich dieses Konzept bereits als wertvolle Unterstützung im Alltag erwiesen.
Sie haben im Gesundheitszentrum Entlisberg eine gemeinsame Haltung: Wie gehen Sie mit individuellen Wertekonflikten im Team um?
Die gemeinsame Haltung ist ein Prozess. Dabei liegt unsere Stärke in der offenen Kommunikation und der engen interprofessionellen Zusammenarbeit. Wertekonflikte werden bei uns angesprochen. Es werden bei Bedarf Fallbesprechungen organisiert, an der nicht nur Ärzt*innen und Pflegefachpersonen teilnehmen, sondern auch der Sozialdienst sowie das Restaurant- und Reinigungspersonal. Ein Ergebnis daraus ist unsere Haltung bezüglich des Verhaltens. Nicht der Konsum von Medikamenten oder Substanzen führt zu einer Handlung, sondern das Verhalten. Wenn dieses nicht mehr sozialverträglich ist, handeln wir gemeinsam und konsequent.
Ich möchte betonen, dass im Gesundheitszentrum Entlisberg Diskussionen willkommen sind und unterschiedliche Meinungen geschätzt werden. Durch gegenseitiges Vertrauen und das gemeinsame Ziel, zum Wohl der Bewohner*innen zu handeln, erweitern wir unser Wissen und unsere Haltung. Dies erleichtert es uns, im besten Interesse der Bewohner*innen, des Teams und des Umfelds zu handeln – auch wenn das Ergebnis manchmal nicht unserer persönlichen Wertehaltung entspricht.
Wo kommen Sie an Ihre Grenzen, wenn es um ethische Spannungsfelder geht? Wo liegen in Ihren Augen auch die Grenzen des Leitfadens des Fachverbands Sucht oder einer gemeinsamen Haltung in einer Institution?
Ein häufig auftretender ethischer Konflikt ist das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge. Aus fachlicher Sicht wäre eine fürsorgerische Unterbringung in einem weglaufgeschützten Wohnbereich teilweise notwendig, um zu verhindern, dass sich die Person so stark selbst schadet, dass sie letztlich stirbt. Dies mag hart klingen, entspricht jedoch der Realität. Einerseits gibt es zu wenige weglaufgeschützte Angebote für Menschen ohne Demenz, andererseits stellen rechtliche Aspekte ein erhebliches Hindernis dar.
Im Gesundheitszentrum Entlisberg wird vieles, was im Leitfaden behandelt wird, im Alltag bereits erfolgreich umgesetzt. Die Pflege und Betreuung spielen dabei eine zentrale Rolle, jedoch kann grundsätzlich keine Pflege ohne entsprechende Betreuung stattfinden. Der Leitfaden ist trotz seines Praxisbezugs ein eher theoretisches Dokument. Er gibt zwar Denkanstösse und Empfehlungen für die Praxis, jedoch keine konkrete Anleitung zur Umsetzung und zur Kommunikation. Hier könnte meiner Meinung nach angesetzt werden und ein eigenständiger Leitfaden zum Thema Kommunikation erarbeitet werden – angesichts der Komplexität der Thematik. Denn die Kommunikation mit den Menschen in herausfordernden Situationen wurde bisher meines Erachtens in diesem Kontext zu wenig thematisiert.
Gab es schon Situationen, die hinsichtlich Berufsethik schwierig waren und in denen Sie rückblickend anders reagieren würden?
Es gibt sicherlich Situationen, in denen Herausforderungen auftreten. Mit zunehmender Erfahrung werden diese jedoch seltener. Ein Beispiel: Derzeit betreuen wir einen Mann mit einer langjährigen Alkoholabhängigkeit (über 50 Entzugsaufenthalte in Kliniken) in einem geschlossenen Wohnbereich, der hauptsächlich Menschen mit schwerer Demenz beherbergt. Täglich hat er zwei Stunden Ausgang. Unsere Massnahmen werden kontinuierlich überprüft. Er äussert, dass er sich wohlfühlt. Die Strukturen begrenzen seinen Konsum, wodurch es nicht zu besonders gesundheitsschädigenden Rückfällen kommt und keine ausgeprägten Konsummuster entstehen. Diese Massnahmen trugen dazu bei, dass bisher keine weiteren Klinikaufenthalte notwendig waren. Ob diese Behandlung ethisch vertretbar ist, bleibt diskussionswürdig.
Aber ich hätte nicht anders gehandelt und meine Empfehlung vertrete ich noch immer, dass ein Aufenthalt in einem geschlossenen Wohnbereich aktuell der richtige Ort ist.
Wichtig ist hier, dass die Entscheidung gemeinschaftlich im Team getroffen wurde und regelmässig bei Visiten und Fallbesprechungen reflektiert wird.

Weiterführende Informationen
Berufsethischer Leitfaden «Empfehlungen zum Umgang mit älteren Menschen mit einer Abhängigkeit
Fachverband Sucht: Alle bisherigen und aktuellen Aktivitäten und Publikationen des Fachverbands Sucht.
Alter und Sucht: Wissensplattform für ältere Menschen, für Angehörige und für Fachleute, die ältere Menschen betreuen, begleiten oder beraten.