Pflegefachpersonen sind täglich mit älteren Menschen mit Hörbehinderung konfrontiert. Ein neuer Wegweiser hilft, Kommunikationsbarrieren zu erkennen, abzubauen und Teilhabe zu ermöglichen. Gemeinsam mit Betroffenen entwickelt, zeigt er praxisnah, wie hörfreundliche Pflege gelingt – ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention.
Viele ältere Menschen mit Hörproblemen stossen im Alltag auf Barrieren – in Gesprächen, beim Zugang zu Informationen oder bei Aktivitäten. Studien und Erfahrungen aus der Praxis zeigen: Pflegende unterschätzen häufig die Auswirkungen einer Hörbeeinträchtigung. Oft fehlt es an Wissen und Handlungssicherheit. Vor diesem Hintergrund können Praxisempfehlungen helfen, die pflegerische Kompetenz im Umgang mit Menschen mit Hörbeeinträchtigung zu stärken und zu sensibilisieren.
Wie alles begann:
Das ZHAW-Institut für Pflege hat in den letzten Jahren in verschiedenen Projekten zum Thema Schwerhörigkeit geforscht. Der Wegweiser basiert vor allem auf den Erkenntnissen, die das Institut in einer Studie sammeln konnte, in der Menschen über 70 mit Hörverlust zu ihrem Alltag befragt wurden. Die Ergebnisse zeigten deutlich: Hörverlust erschwert nicht nur die Kommunikation, sondern wirkt sich auch auf das Sicherheitsgefühl, die Teilhabe und das psychische Wohlbefinden aus. Betroffene fühlen sich häufig nicht ausreichend unterstützt – weder im Umgang mit Hilfsmitteln noch bei der Gestaltung einer hörfreundlichen Umwelt. Der Wegweiser ist daher als praxisorientiertes Ergebnis zu verstehen – mit dem Ziel, Pflegewissen bereitzustellen und für das wichtige Thema Schwerhörigkeit zu sensibilisieren.
Hören ist nicht gleich Verstehen
Mit dem Alter verändert sich das Hören – und damit auch das Verstehen. Hören heisst nicht verstehen. Hier liegt eine grosse Verletzlichkeit vor, von der viele Betroffene berichten. Die Veränderung des Hörens kann bedeuten, dass sich die Rolle in der Familie verändert. Betroffene sagen, dass sie sich im Strassenverkehr, im Supermarkt oder im Pflegeheim unsicher fühlen, wenn sie nicht mehr hören, was um sie herum passiert. Der Verlust des Hörens wird von den Betroffenen oft als schmerzlich empfunden, weil er gewohnte und liebgewonnene Alltagsaktivitäten wie das Musikhören verändert. Zwar bieten Hörgeräte heute viele Möglichkeiten zur Verbesserung – doch wie Studienergebnisse des Instituts für Pflege der ZHAW zeigen, ist das Hören damit nicht mehr dasselbe. Auch das Sprachverständnis verändert sich oft: Menschen, die früher sehr sprachbegabt waren oder viel im Ausland gelebt haben, berichten, dass sie im Alter trotz vorhandener Sprachkenntnisse Schwierigkeiten haben, das Gehörte richtig zu verstehen. Viele wenden sich daher in Gesprächen wieder verstärkt ihrer Muttersprache zu.
Zentral ist das Bewusstsein
Im Pflegealltag ist es zentral, dass Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet. Menschen müssen die Möglichkeit haben, von den Lippen abzulesen. Oft sind es kleine Anpassungen, die im Alltag Grosses bewirken können. Wenn wir uns nicht verstehen können, fehlt die Grundlage für Nachfrage, Beziehung und Vertrauen. Häufig sind es auch umgebungsbedingte Faktoren, die Kommunikation erschweren: Raumakustik, Hall, fehlende Rückzugsmöglichkeiten. Institutionen können hier einen wertvollen Beitrag leisten – etwa durch schallisolierende Materialien oder durch eine bewusste Raumgestaltung mit Textilien, Teppichen oder Kissen, die den Geräuschpegel dämpfen. Betroffene müssen von den Lippen lesen können. Oft sind es kleine Anpassungen, die im Alltag Grosses bewirken können.
Wie kann mit dem Wegweiser gearbeitet werden?
Pflegefachpersonen können mit dem Wegweiser arbeiten, indem sie ihn z.B. in Form eines Büchleins in die Tasche stecken und immer wieder nachschlagen. Gleichzeitig kann die Arbeit mit dem Büchlein dazu beitragen, sich über die Hörsituation älterer Menschen auszutauschen, was wiederum die Sensibilität im Umgang mit Schwerhörigkeit stärken kann. Eine Alltagssituation soll exemplarisch aufzeigen, wie schnell Hörprobleme im Alter zu Missverständnissen führen können:
Antonia Bennet (Name geändert) ist fast 90 Jahre alt und schwerhörig. Sie verbringt viel Zeit auf dem Sofa, von dem sie ohne Hilfe kaum aufstehen kann. Ihre Hörgeräte liegen oft ungenutzt auf dem Nachttisch. Wenn Pflegefachpersonen den Raum betreten, erschrickt sie regelmässig, wirkt verunsichert und reagiert auf Ansprache verzögert oder gar nicht. Sie wird deshalb oft als desorientiert wahrgenommen.
Was Pflegende wissen müssen:
- Fehlender Blickkontakt, verzögerte Reaktionen oder scheinbare Verwirrtheit können Ausdruck einer unzureichenden akustischen Wahrnehmung sein.
- Frau Bennet kann möglicherweise nicht einschätzen, wer ihr Zimmer betritt, was zu einer Überforderung führt. Ihre Reaktion ist verständlich, wenn sie Geräusche nicht richtig orten oder Gespräche nicht sofort verstehen kann.
Pflegehandeln anpassen – mit dem Wegweiser als Grundlage
Wie im Wegweiser formuliert, können Pflegefachpersonen folgende Massnahmen ergreifen:
- Vor dem Betreten des Zimmers deutlich anklopfen oder sich akustisch und optisch bemerkbar machen.
- Die betroffene Person freundlich ansprechen und ins Blickfeld treten, bevor ein Gespräch begonnen wird.
- Blickkontakt herstellen, langsam und deutlich sprechen, Gesicht nicht verdecken.
- Die Person bei Bedarf bei der Benutzung ihrer Hörgeräte unterstützen und mit ihr besprechen, in welchen Situationen sie die Hörgeräte tragen möchte.
- Umgebung ruhig gestalten (z.B. kein laufender Fernseher im Hintergrund), um akustische Reize zu minimieren.
- Informationen zusätzlich schriftlich oder visuell zur Verfügung stellen, um das Verständnis zu erleichtern.
Auswirkungen für die betroffene Person und das Pflegeteam
Wird die Situation unter Berücksichtigung der Empfehlungen des Wegweisers gestaltet, entsteht mehr Sicherheit für Antonia Bennet. Sie fühlt sich weniger überfordert, kann Reize besser einordnen und wird seltener als verwirrt oder unzugänglich erlebt. Auch das Pflegeteam profitiert – durch mehr Verständnis, weniger Fehlinterpretationen und ein ruhigeres Miteinander. So wird deutlich: Der Wegweiser hilft nicht nur, die Kommunikation zu verbessern – er schafft die Grundlage für eine respektvolle, personzentrierte Pflege.
Ausblick
Der Wegweiser, der in Zusammenarbeit mit Betroffenen und Fachpersonen entwickelt wurde, kann Pflegefachpersonen als Orientierungshilfe dienen, indem er aufzeigt, wie mit einfachen Massnahmen wie Blickkontakt, einer ruhigen Gesprächsumgebung oder dem Einsatz unterstützender Technik Missverständnisse reduziert und Interaktionen erleichtert werden können. Pflegefachpersonen erhalten eine praxisorientierte Anleitung, wie sie die Grundrechte von Menschen mit Hörbehinderung im Pflegealltag umsetzen können. Sie werden darin bestärkt, sich für strukturelle Verbesserungen in ihrer Organisation einzusetzen und gemeinsam mit Kolleg*innen eine hörfreundliche Pflegekultur zu entwickeln.

Mitwirkende
Autorinnen:
Prof. Dr. Daniela Händler-Schuster, ZHAW Gesundheit
Dr. Colette Schneider Stingelin, ZHAW Angewandte Linguistik
Beratungsgremium:
Prof. Dr. Frank Wieber und Andrea Günther, ZHAW Gesundheit
Anika Heinrich, Schweizerischer Hörbehindertenverband Sonos
Pro Audio Schweiz und Pro Audito St. Gallen
Sabrina Schuler
Schuler Gebärdensprachdolmetscherin
Prof. Dr. Sebastian Probst, HES-SO Haute école spécialisée de Suisse occidentale
Studierende MScN der UMIT Tirol: Jasmin Brugger, Laura Kammerlander, Bianca Moser, Daniel Ristovic, Juliane Seeger, Valentina Siller
Dr. Carly Meyer and Dr Barbra Timmer, The University of Queensland, Australia
Prof. Dr. Markus Melloh, Queensland University of Technology (QUT), Australia
Sponsoren
FRH Fondation pour la recherche en faveur des personnes handicapées
Innovation Booster by Innosuisse
Sonos Schweizerischer Hörbehindertenverband
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften