Unsere Sinne als Fenster zur Welt

In jedem Alter müssen wir essen; und in jedem Alter verstehen wir auch die «Botschaften des Essens». Essen vermittelt Bedeutungen, Inhalte, Codes, welche wir auch ohne ein dabei ausgesprochenes Wort erfassen.

Diese Zeichen des Essens können wir auf unterschiedlichen Ebenen entschlüsseln, wir «verstehen» diese Botschaft körperlich, rational und emotional, rational Mit unseren Sinnen begreifen wir «die Welt», das heisst, den Alltagskontext, in dem wir leben. Unsere Sinne sind für uns die einzige Möglichkeit, die Welt als solche wahrzunehmen, im Sinne von als «gegeben» zu verstehen. Sinne sind unsere «Fenster zur Welt». «Wahrnehmen» (und damit Schmecken, Riechen, Sehen, Hören, Tasten) bedeutet damit auch, die Welt als «richtig», «eindeutig», «bestätigt» zu erfahren und sich als Mensch darin wertgeschätzt und aufgehoben zu fühlen.

Unsere Sinne sind kulturell geprägt, so eben auch unser Geschmack. So essen wir eine Speise nicht, weil sie uns schmeckt, sondern sie schmeckt uns, weil wir gelernt haben, sie zu essen und zu mögen. Ein Kind muss bis zu 16x eine Speise probieren, bevor es lernt, diese zu mögen. Auch was wir als angenehmen Geruch, Klang, Textur oder ansprechende Farben empfinden, ist kulturell bedingt. Die sinnliche Wahrnehmung des Essens ist immer geprägt durch eine jeweilige Kultur. Akzeptanz oder Ablehnung von Essen ist Ausdruck gesammelter persönlicher Erfahrungen, die gerade beim Essen, als stetige soziale Handlung im Alltag, gemacht werden.

Essen vermittelt eine Ordnung und Routine, eine Botschaft, die wir verstehen

Unsere Art und Weise, was wir essen und was uns schmeckt verläuft nach erlernten Strukturen und Regeln. So essen wir weder beliebig noch unstrukturiert, wir essen in aller Regel zu bestimmten Zeiten, etwa zur Mittagszeit, in dafür vorgesehen Räumlichkeiten (Küche, Esszimmer, Kantine usw.) und Möbeln, am Tisch, im Sitzen auf einem Stuhl und mit dafür bestimmten Tischgeräten wie Essbesteck und Tellern, und wir essen vorzugsweise mit Menschen, mit denen wir gerne zusammen sind. Solche Strukturen helfen uns, den Speisen Symbole zuzuschreiben (und diese zu entschlüsseln), die Fülle an Informationen im Alltag zu bewältigen, zu verstehen wie auch, die Komplexität des Lebens besser zu meistern. Diese erlernten Botschaften helfen uns also auch, uns zu orientieren und damit geben sie uns Halt und Teilhabe an dem Geschehen um uns herum.

Soll das Essen schmecken, muss die Art und Weise des Essens in erlernten (und damit vertrauten und gewohnten) Strukturen und Ordnungen ablaufen. Ordnung hat Sinn und generiert Sinn, Essen und Geschmack kann nicht beliebig und gänzlich unbekannt sein. Der erlernte und kulturell gewohnte Geschmack ist ein wichtiger Taktgeber für den Alltag. Mahlzeiten und der Geschmack der Speisen geben Auskunft über die jeweilige Tageszeit (Frühstücksbrötchen), Jahreszeit oder Festanlass (Geburtstagskuchen). Damit knüpft das Essen und der Geschmack an «Normalitätserfahrungen» an, die es erlauben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen beispielsweise über die Geschmackserfahrungen des frischen Gipfeli oder der Tasse Kaffee am Morgen.

Essen transportiert Leitwerte der Gesellschaft

Zu allen Zeiten waren Menschen auf der Suche nach Ziel und Sinn ihres Lebens. Vielfach wurden die Deutungsmuster von der Kirche und den christlichen Gemeinschaften vorgegeben und boten damit dem Individuum Halt und Struktur. In Zeiten von pluralisierenden und konkurrierenden Werten in unserer säkularisierten Welt fällt es heute schwer, für sich eine Sinndeutung zu finden. Hier kann Essen einen überschaubaren und sinnstiftenden Anker bieten. Zum einen, weil Essen jeden Tag mehrmals erfolgt, Struktur, sozialen Anreiz vermittelt, zum anderen, weil ich mich damit als Teil einer Kultur und Zugehörigkeit erleben kann. Essen kann damit zum Beziehungssymbol werden und so zu uns «sprechen».

Das Verständnis von den vielfältigen Aspekten der Botschaften des Essens ist eine Voraussetzung dafür, zu verstehen, wie das (schmackhafte) Essen als Teil der Beziehung, der Therapie und auch der Pflege genutzt werden kann. Wichtiges Kriterium sollte dabei immer sein, dass das Essen sich an den Bedürfnissen und Vorlieben orientiert und Genuss und Freude bereitet.

Sensibilisieren – ein paar Übungen dazu

Dazu gehört auch, sich selbst für diese ungemeine Vielfalt der Botschaften des Essens zu sensibilisieren. Folgende kleine Übungen sollen dazu eine kleine Anregung bieten:

  • Für zwei Personen: Nehmen Sie verschiedene Lebensmittel und lassen Sie diese blind verkosten. Lassen Sie dann raten, um welche Lebensmittel es sich handelt
  • Färben Sie Apfelsaft rot (Kirschsaft) oder blau (Heidelbeersaft) mit Lebensmittelfarbe. Geben Sie den Saft ohne vorherigen Kommentar als Kirschsaft (rot) oder Heidelbeersaft (blau) aus und beobachten Sie, wie die Umwelt reagiert. Vielfach vertrauen wir so sehr auf die Farbe, dass wir unseren Geschmack täuschen können.
  • Machen Sie eine Genussreise mit Schokolade: Dazu lassen Sie ein Stückchen Schokolade mindestens für 10 Minuten im Mund und stellen Sie sich dabei vor, wie Sie eine Insel aus Schokolade durchlaufen und bei verschiedenen Stationen auf der Insel ein wenig Schokolade verkosten. Wenn Sie am Schluss noch etwas Schokolade im Mund haben, dürfen Sie diese zerbeissen. Die Schokolade schmeckt unglaublich intensiv!
  • Verkosten Sie verschiedene Lebensmittel mit zugehaltener Nase, der Geschmack ist dann fad und nichtssagend!
  • Erinnern Sie sich an schöne Orte, an denen Sie mit lieben Menschen etwas Schönes gegessen und getrunken haben. Was machte das Ambiente so einzigartig?  Welche Dinge waren dabei besonders wichtig? Wie könnte eine solche Situation in Ihren momentanen Alltag «zurückgeholt» werden?
  • Machen Sie für sich (und Ihre Liebsten) ein kleines Fest im Alltag. Mit Farben, einem anderen Gedeck, Tischtuch, Blumen auf dem Tisch usw. Es braucht oft nicht viel, um ein Essen «hervorzuheben», wir erleben dann in der Regel solche Mahlzeiten viel intensiver, weil sie eine Wertschätzung vermitteln: gegenüber sich selbst, den Mitmenschen, dem Essen an sich.

Blogbeitrag Teil 1 – Essen ist eine Sprache, die wir auch ohne Worte verstehen

Alle
Praxis

Kommentar Schreiben

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert