Pandemie und das Leben im Pflegezentrum

Erinnern Sie sich, als im Dezember 2019 die ersten Meldungen über das Auftreten eines neuen, gefährlichen Virus in China, in allen Medien war? Weit weg schien es, dieses SARS-CoV-2-Virus! Doch bereits im Januar folgten Medienberichte über erste Viruserkrankungen in Bergamo und damit wuchs auch bei uns in der Schweiz die berechtigte Sorge, das Virus könnte auf uns übergreifen. Bilder von überfüllten Spitälern waren zu sehen und Nachrichten über viele Todesfälle in Altersinstitutionen und in Spitälern prägten die Berichterstattung.

Die zentrale Frage im Pflegezentrum war: Wie können wir eine solche Entwicklung bei uns verhindern, wie gelingt es uns, die uns anvertrauten Bewohnerinnen und Bewohner vor einer Corona-Erkrankung zu schützen?

Wenig Wissen und viel Unsicherheit

Zu Beginn der Pandemie war wenig validiertes Wissen über die Ansteckung und deren Folgen vorhanden und überall zeigte sich grosse Verunsicherung. Auch wir im Pflegezentrum waren in höchster Alarmbereitschaft. Täglich erreichten uns neue Weisungen und Informationen. Die Situation war ruhig, konzentriert aber auch sehr angespannt. Höchste Vorsicht war geboten, um die Bewohnerinnen und Bewohner vor den Auswirkungen dieser Pandemie zu schützen. So sorgte das durch die Gesundheitsdirektion ausgesprochene Besuchsverbot in Spitälern und Pflegeinstitutionen vorerst für eine gewisse Sicherheit.

Kontakte leben und ermöglichen

Mit dem Lockdown und der Schliessung der Institutionen nach innen und aussen mussten plötzlich unsere bisher gelebten Werte wie Autonomie, Lebensqualität, Beziehungspflege, Gastfreundschaft usw. völlig anders gesehen werden. Bewohnerinnen und Bewohner durften das Haus nicht mehr verlassen, Angehörigen war es verwehrt, ihre Liebsten zu besuchen, Mitarbeitende mussten aufwändige Hygienemassnahmen umsetzen und standen im Fokus der Öffentlichkeit. Kinder aus dem Quartier durften nicht mehr zum Mittagessen oder zu einem Besuch in unseren schönen Garten kommen.

Vieles, das wir in den vergangenen Jahren aufgebaut und mit grosser Selbstverständlichkeit gelebt haben, vieles, das uns sehr am Herzen liegt, war von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich. Die Kontakte zu den Angehörigen, die wir vor der Pandemie regelmässig und gerne persönlich gepflegt haben, konnten von einem Tag auf den anderen nur noch telefonisch stattfinden. Unsere wichtigsten Partnerinnen und Partner, die bedeutendsten Bezugspersonen der Bewohnerinnen und Bewohnern, die Angehörigen, waren plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlossen – eine äusserst schwierige Situation für alle Beteiligten!

Neue Wege suchen und gehen

Wir alle waren in der ersten Welle herausgefordert, ganz neue Wege in der Beziehungspflege zu gehen. Unzählige Telefonanrufe fanden statt, Angehörige winkten vom Parkplatz aus ihren Liebsten zu. Die grosse Fensterfront bei der medizinischen Therapie wurde zum Treffpunkt für Telefongespräche, denn hier konnte man sich wenigstens sehen.

Geschenke wurden beim Eingang abgegeben und gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern wurden, wo gewünscht, Karten an Angehörige geschrieben. Aber auch neue Techniken wie die Videotelefonie kam zum Einsatz. Ein ganzes Team war damit beschäftigt, gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern über Video Kontakt mit den Angehörigen aufzunehmen. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner konnten teilweise ihren Augen kaum trauen, dass sie direkt ins Wohnzimmer der Tochter oder des Enkels sehen konnten. Das Team berichtete von berührenden Momenten, von grosser Freude aber auch vereinzelt von Tränen. Einige unserer Bewohnerinnen und Bewohner haben die Videotelefonie beibehalten, auch als Besuche längst wieder möglich waren.

Eine schöne Bereicherung war auch die Brieffreundschaft mit einer 1. Klasse aus dem Quartier. Gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern wurden die Briefe der Kinder beantwortet. Die mitgeschickten Zeichnungen der Kinder schmücken heute noch einige Zimmer.

Umgang mit der Krise

So individuell wie Menschen sind, so unterschiedlich war und ist ihr Umgang mit dieser Krise. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind da keine Ausnahme. So gab es jene, die unter der eingeschränkten Kontaktmöglichkeit zu den Angehörigen sehr litten, sich zurückzogen oder traurig wurden. Andere schickten sich in die neue Situation und, wie sie sagten, machten das Beste daraus. Aber der persönliche Kontakt, die Nähe zu den Angehörigen, das fehlte!

Glücklicherweise hatten wir in der ersten Welle viel zusätzliches Personal. Alle Lernenden und Studierenden arbeiteten im Haus, waren also von der Schule und dem Studium freigestellt und konnten uns unterstützen. Zusätzlich war uns es erlaubt deutlich über dem Stellenplan Personal zu rekrutieren. So konnten wir dank diesen ausserordentlichen Personalressourcen viele Einzelbetreuungen, Spaziergänge und täglich Aktivitäten für die Bewohnerinnen und Bewohner anbieten. Eine Bewohnerin brachte es mit folgenden Worten auf den Punkt: «Zum Glück bin ich hier, denn bei euch bin ich nie allein, da ist es für meinen Mann, der immer zu Hause bleiben muss, viel schwieriger, er ist einsam!»

Für die Angehörigen war diese Zeit sicher eine sehr grosse Herausforderung. Plötzlich waren sie ausgeschlossen und konnte ihr Mami, ihren Lebenspartner, ihr Grosi nicht mehr in den Arm nehmen, nicht mehr im persönlichen Kontakt sein und spüren wie es ihren Liebsten geht. Das war sehr hart! Trotz der einschneidenden Massnahmen begegneten uns die Angehörige mit grossem Verständnis, denn auch sie wollten unter keinen Umständen ihre Liebsten der Gefahr des Corona-Virus aussetzen.

Auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begegneten der Herausforderung privat und beruflich unterschiedlich. Was wir aber durchwegs bei allen feststellen durften, war ihre grosse Zuverlässigkeit bei der Umsetzung der Schutzmassnahmen. Die Sorge, jemand könnte eine Bewohnerin, einen Bewohner anstecken, war allgegenwärtig und das Wohlergehen der Bewohnerinnen und Bewohner war zentral. Auch wir «haderten» teilweise mit dem Besuchsverbot. Freiheit versus Schutz – ein ethisches Dilemma für uns alle!

Ein Augenblick, der in Erinnerung bleibt

Die Nachricht von der Aufhebung des Besuchsverbotes versetzte uns alle in Aufregung. Trotz der strengen Schutzmassnahmen war für uns klar, dass wir den schönsten Besuchsbereich schaffen wollten. Kein Plexiglas, dafür grosse Tische mit weisser Tischdecke und Blumen. Unsere Angehörigen, die nun endlich wieder zu Besuch kommen durften, sollen sich herzlich willkommen fühlen.

Die ersten Besuche nach dem Lockdown waren sehr berührend. Freudentränen flossen, aber auch schwierige Momente zeigten sich. Wie soll die Angehörige mit ihrer an Demenz erkrankten Mutter in Beziehung treten, wenn 2 Meter Abstand zwischen ihnen liegen? Das waren sehr anspruchsvolle Situationen. Dennoch überwogen die schönen und glücklichen Momente.

Mehr Erfahrung, mehr Möglichkeiten

Die zweite Welle hat uns in der Zwischenzeit fest im Griff. Doch glücklicherweise ist vieles anders wie in der ersten Welle. Wir alle haben aus der ersten Pandemiephase gelernt, können Gefahren besser einschätzen und nutzen unseren Handlungsspielraum. Besuche im Restaurant können wieder ohne Voranmeldung stattfinden und in besonderen Situationen ist mit einer Sonderbewilligung ein Besuch im Zimmer möglich. Dennoch sind wir täglich gefordert, die Schutzmassnahmen konsequent einzuhalten.

Unser Personal trägt immer und überall Masken, die einzige Ausnahme ist während der Essenspause im Restaurant bei 1.5 Meter Abstand. Die gleichen Massnahmen gelten auch für alle Besucherinnen und Besucher. Es ist zu einem alltäglichen Ritual geworden beim Empfang die Hände zu desinfizieren, eine Maske anzuziehen und seine Kontaktdaten aufzuschreiben. Der bestmögliche Schutz und gleichzeitig der grösstmögliche Freiraum für unsere Bewohnerinnen und Bewohner bleibt weiterhin ein wichtiges Ziel.

Zuversicht

Die zweite Welle hat die Welt, die Schweiz und auch die Gesundheitsinstitutionen fest im Griff. In dieser herausfordernden Zeit sind wir dankbar für die solide Vertrauensbasis mit Angehörigen sowie Bewohnerinnen und Bewohnern. Ich bin zuversichtlich, dass wir immer wieder Wege finden, diese äusserst anspruchsvollen Situationen gemeinsam zu meistern.

Weiterführende Links

Verlinkung auf Teil 1 von 3 (Miteinander und Füreinander in Pflegeinstitutionen)
Verlinkung auf Teil 2 von 3 (Coronavirus in Pflegeinstitutionen – Gedanken, Sorgen und Ängste Angehöriger)

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