Nachhaltige Begegnungen mit Menschen im vierten Lebensalter

Gerade für Menschen im hohen Lebensalter sind soziale Begegnungen und Beziehungen mit individuellem Austausch wichtig. Durch Verringerung der Leistungs- und Anpassungsfähigkeit des Organismus und verschiedene Verlusterfahrungen weisen sie erhöhte Verletzlichkeit auf. Während der Corona-Pandemie kam es zu Kontakteinschränkungen, weshalb ich Bewohnende der Gesundheitszentren für das Alter persönlich besuchte und spannende Begegnungen erlebte.   

Bedürfnis nach Begegnungen und Kontakt

Im Herbst 2020 stiegen die Corona-Fallzahlen erneut an. In meiner Funktion als Stabsstelle Gerontologie der städtischen Gesundheitszentren für das Alter hiess das, meine Tätigkeiten im Zusammenhang mit Workshops, Schulungen und Vorträgen zu unterbrechen. Jetzt brauchte es anderweitig Unterstützung und Begleitprozesse waren gefragt. Gemeinsam mit einigen meiner Arbeitskolleginnen und –kollegen meldete ich mich für entsprechende Einsätze. Da ich vorwiegend am Wochenende vor Ort in den Gesundheitszentren war, kam ich vermehrt in Kontakt mit den Bewohnenden und ihren Bedürfnissen und Sorgen in dieser herausfordernden Zeit. Deshalb meldete ich mich nach zusätzlichen Tagen als Unterstützung innerhalb der Tagesbetreuung mit der Anfrage, ob ich Bewohnende besuchen könne. Denn für die Entwicklung und Balance bis hin zum Lebensende sowie für Lebensqualität und Wohlbefinden sind folgende gerontologische Aspekte bedeutsam: Raum für achtsam begleiteten Lebensrückblick, Austausch über Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse, kreative Gestaltungsmomente und die Möglichkeit, auch für andere Sorge tragen zu können. Mein Anliegen stiess auf grosses Interesse und dies war der Anfang für Begegnungen und vertiefte Gespräche.

Die Reise beginnt

Meine Anwesenheit im Zentrum wurde jeweils durch die Leitungsperson im Speisesaal bekannt gegeben. Zusätzlich wurde ein Plakat aufgehängt – teilweise mit Foto – sodass sich die Bewohnenden ein besseres Bild machen und sich bei Interesse für einen Besuch anmelden konnten. Ich bekam vom Zentrum eine Namens- und Zimmerliste sowie Hinweise auf Bewohnende mit wenigen Besuchen, in Isolation oder in Quarantäne. Damit startete eine Zeit, in der ich meine Erfahrungen in der psychosozialen Begleitung und Kommunikation sowie mein Wissen über das vierte Lebensalter noch einmal erweitern durfte. Nicht nur für mich entstanden einzigartige Begegnungen, auch Bewohnende schätzten die Begegnungen: 

«Das waren unglaublich spannende eineinhalb Stunden. Eine richtig kleine Reise hin zu bedeutsamen Momenten meines Lebens, an die ich lange nicht mehr gedacht habe. Fühle mich sehr bestärkt.»

Kontakt knüpfen, Beziehung aufbauen

Der Moment zwischen dem Anklopfen an der Zimmertüre und dem ersten – im wahrsten Sinne des Wortes – Augenblick, war jeweils mit besonderer Spannung verbunden. In einem ersten Schritt ging es dann darum abzugleichen, ob der Zeitpunkt für ein Gespräch gut ist oder ob ein anderer Termin besser passt. Bei Bewohnenden, die ich auf Hinweis der Leitperson besuchte, stellte ich mich vor und fragte, ob sie Interesse an einem Besuch und Gespräch haben. Meist wurde ich hereingebeten, wenn auch noch mit leichtem Zögern. Als Gesprächseinstieg und Eisbrecher eignete sich eine Bemerkung zur Zimmeraussicht, einem besonderen Gegenstand oder der Einrichtung. Wir sprachen darüber, wie lange die Person im Zentrum lebt und kamen damit auch rasch auf die aktuelle Lage zu sprechen, die Einschränkungen, das Wechselbad der Gefühle sowie den rasch spürbaren körperlichen Abbau bei Bewegungsmangel. Achtsames Zuhören öffnete den Raum für Ängste, Enttäuschungen, Verletzungen und Wut. Dies half mir, gemeinsam mit der Person den Weg hin zu den Bedürfnissen in den eigenen Lebenswelten zu ermitteln: «Es tat mir so gut, meinen Gefühlen einmal richtig Luft zu machen. Vor allem auch, weil ich jetzt spüre, dass ich noch über vieles andere reden möchte. Und bei ihnen auch kann. Das ist ein besonderes Geschenk in dieser verrückten Zeit.»

Schon am ersten Besuchsnachmittag eröffnete sich mir im Kontakt mit einem Bewohner eine ganz besondere Lebensgeschichte. Wir sprachen über Musik und ihre besondere Wirkung und Bestärkung, da der Mann in jungen Jahren aktiv und erfolgreich als Sänger im Einsatz war. Er zeigte mir alte Schallplatten und begann plötzlich ein wunderschönes Lied für mich zu singen. Daraufhin erzählte er mir von speziellen und besonders schwierigen Momenten seines Lebens. Ich war zutiefst berührt über die Lebensgeschichte und die Tragik darin, gleichzeitig sehr dankbar für das grosse Vertrauen, das er mir schenkte. Nach diesem Besuch brauchte ich einen Moment des Rückzugs und der Verarbeitung. Ich begann in meinem Begleitheft einige seiner Bemerkungen wie auch meine eigenen Gefühle nach dieser intensiven Begegnung festzuhalten. Auch für ihn war die Begegnung speziell: «Das hätte ich nie gedacht: Vor zwei Stunden waren sie eine Fremde für mich. Und jetzt habe ich Ihnen so persönliche Erlebnisse erzählt, die ich tatsächlich noch nie mit jemandem geteilt habe.»

Leitlinien der Gespräche

Wovon habe ich mich in diesen Begegnungen und Gesprächen leiten lassen? Was hat aus meinem Blickwinkel oft zu einer erstaunlichen Tiefe geführt? Wichtige Grundlagen in meinen Gesprächen bilden die personenzentrierte und damit nicht wertende Grundhaltung, das aktive Zuhören und verstehen wollen, die Möglichkeiten des narrativen Interviews auf Basis des gerontologischen Lebensweltenmodells sowie die Idiolektik. Letztere ist eine Kommunikationsmethode, welche die Eigensprache der Person, ihre Einzigartigkeit und Individualität respektvoll in den Fokus rückt. Die Methode arbeitet mit sehr einfachen, offenen Fragen, verbindet diese mit Schlüsselwörtern, die sie beim Erzählenden aufgreift und steigt auf die von der Person gewählten Bilder und Metaphern ein, die den Zugang zur Welt des Anderen öffnen und rasch zu Vertrauen und Wohlbefinden führen können. Manchmal gelang die Tiefe des Gesprächs gerade durch die Intimität des persönlichen Wohnbereichs. Ein anderes Mal durch einen gemeinsamen Spaziergang im Garten, auf der Terrasse oder bei einem Gang durch das Quartier. Wenn Bewohnende über den spürbaren körperlichen Abbau klagten und über Mühe beim Atmen, wählte ich einfache kurze Übungen, die wir gemeinsam durchführten und die uns teilweise auch zum gemeinsamen befreienden Lachen führten.

«Mir ist bewusst, sie können nicht regelmässig vorbeikommen.
Solche Gespräche wären jedoch die beste Medizin und Therapie, die es geben könnte.»

Bei Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen wählte ich oft intuitiv sinnliche Zugangswege. Nachdem mir eine Bewohnerin zum Abschied sagte, dass meine Eltern mir den absolut richtigen Vornamen mit auf meinen Lebensweg gegeben hätten, ich sei wirklich ein Engel, packte ich für den nächsten Begegnungstag eine meiner Engel-Handpuppen ein, die mich sonst zu meinen Einsätzen in den Tagesbetreuungen begleitet. Sie hat mir einige Male den Zugang zur Person erleichtert.

Persönliche Gedanken und Ausblick

Weit über hundert Bewohnende durfte ich so in den letzten Monaten, zum Teil auch mehrmals, besuchen und kennenlernen. Mir ist wieder in aller Deutlichkeit bewusst geworden, wie essentiell in unserem Arbeitsfeld die psychosoziale Begleitung und Betreuung von hochbetagten und verletzlichen Menschen ist. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass auch von politischer Seite her die Bedeutsamkeit dieses menschlichen Grundbedürfnisses erkannt und die psychosoziale Begleitung genauso ihre anerkannte Position erhält.  

Mich haben die Begegnungen nachdenklich, dankbar und auch demütig gestimmt. Ich fühle mich durch die Geschichten und Gedanken dieser Menschen reich beschenkt und ermutigt, mich weiter für neue Ansätze in der Altersarbeit einzusetzen.

Literatur und Links

Kruse, A. (2017). Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife. Berlin: Springer

https://www.suedkurier.de/baden-wuerttemberg/der-psychologe-andreas-kruse-ist-auf-aeltere-menschen-spezialisiert-er-warnt-die-isolation-alter-menschen-ist-ein-verstoss-gegen-die-wuerde;art417930,10504262

https://www.uni-heidelberg.de/de/newsroom/alte-menschen-koennen-ein-gutes-vorbild-sein

Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung (GIG) e.V. https://idiolektik.de

Zur Vertiefung ein Podcast mit Andreas Kruse (März 2021): Niemand ist eine Insel nur für sich selbst https://www.youtube.com/watch?v=aid8QrRuGvA

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