Ich bin so alt, wie ich mich fühle

Die in der Gesellschaft bestehenden Altersbilder haben einen grossen Einfluss auf die Altersvorstellungen der heranwachsenden Bevölkerung und die Entwicklungsmöglichkeiten im Alter. Allein der Gedanke, dass man etwas aufgrund des fortgeschrittenen Alters nicht tun könne, hindert uns oft daran, es überhaupt zu versuchen. Es besteht die Gefahr, dass unbewusste negative Altersbilder ohne Reflektion übernommen werden und unser Verhalten prägen und möglicherweise limitieren.

Kann ein Computerprogramm unser unbewusstes Altersbild lesen?

Im Rahmen meiner Masterarbeit am UFSP Dynamik Gesunden Alterns, am Lehrstuhl Gerontopsychologie von Professor Mike Martin, betreut durch Dr. Tabea Meier, habe ich mir die Frage gestellt, ob ein sprachbasiertes Computerprogramm in der Lage ist, unser unbewusstes Altersbild abzubilden. Für meine Untersuchung konnte ich die Texte aus der NOGA-Studie («Narrative Online-Studie zu Gesundem Altern») nutzen, an der 721 Personen im Alter von 18 bis 87 Jahren teilgenommen haben. Das Kernstück der NOGA-Studie war eine Schreibaufgabe, in der die Teilnehmenden gebeten wurden, Ihre Gedanken und Gefühle zum «guten Altern» aufzuschreiben. Einige dieser Texte kann man auf der Webseite https://noga.dynage.ch nachlesen – sie geben Einblick in individuelle Narrative der Studienteilnehmenden. Die Texte habe ich mit dem von Pennebaker et al. entwickelten computerbasierten Sprachanalyse-Programm «Linguistic Inquiry and Word Count» (LIWC) ausgewertet. LIWC ist ein Computerprogramm, das automatisch den Anteil von Wörtern einer bestimmten Kategorie zählt und damit Rückschlüsse auf psychologische und soziale Prozesse beim Sprechenden oder in dem Fall Schreibenden erlaubt.  In Anlehnung an die Literatur haben wir eine deutsch-schweizer Version eines Altersbild-Diktionärs entwickelt, die aus den Texten negative und positive Altersbilder herausfiltern soll. Ein Altersbild-Diktionär besteht aus einer Sammlung von themenspezifischen Wörtern. Ein eher negatives Altersbild spiegelte sich durch einen häufigeren Gebrauch von Wörtern wie senil, pflegebedürftig, mürrisch, hilflos und Gebiss wider. Ein positives Altersbild spiegelten Wörter wie Ehrenamt, agil, Genuss, bedacht, ausgeglichen, Lebensenergie und Berge wider. In der NOGA-Studie füllten die Teilnehmenden auch eine Kurzfassung des Fragebogens zu bereichsspezifischen expliziten Altersbilder aus, der von Kornadt und Rothermund (2011) entwickelt wurde. Beispielsweise war eine Anweisung, an ältere Menschen im Bereich Familie und Partnerschaft zu denken und dann anzukreuzen, ob man eher denkt, dass ältere Menschen einsam und allein sind oder eher geborgen und eingebunden. Somit konnte ich die bewussten negativen und positiven Altersbilder (per Fragebogen erhoben) mit den unbewussten negativen und positiven Altersbildern derselben Personen in den Texten (per Sprachanalyseprogramm erhoben) vergleichen und Übereinstimmungen erkennen. Die Resultate der Untersuchungen zeigen, dass die Art, wie wir über das Altern sprechen, über automatisierte Sprachanalyse Hinweise auf unsere Altersbilder gibt. Dabei unterschied sich in unserer Studie die Art über das Altern zu sprechen nicht abhängig vom Alter des Schreibers oder der Schreiberin. Wörter, die mit einem positiven, aktiven Altersbild zusammenhängen, wurden deutlich häufiger genutzt als ein vulnerables, negatives Bild vermittelnde Wörter.

Gesellschaftliche Relevanz

Einen bewussten Umgang mit seinem Altersbild zu haben ist nicht nur gesellschaftlich wichtig, sondern hat auch etwas mit der eigenen Lebensqualität zu tun. Klusmann et al. (2020) oder Kornadt et al. (2019) weisen darauf hin, dass Altersbilder unsere Gesundheit beeinflussen und nicht umgekehrt. Ein positives Altersbild über die ganze Lebensspanne könnte auf die Dauer das Gesundheitssystem entlasten und einen Beitrag zu einem zufriedenen und selbstbestimmten Leben leisten. Im März 2021 hat die WHO eine globale Kampagne «Aworld4AllAges» gegen Altersdiskriminierung gestartet, an der auch GERONTOLOGIE CH teilnimmt. Wir sollten alle sorgfältig und bewusst mit unseren Äusserungen und Gedanken über das Alter umgehen.

Literatur

Klusmann, V. & Kornadt, A. E. (2020). Current directions in views on ageing. European Journal of Ageing, 17(4), 383–386.

Kornadt, A. E. & Rothermund, K. (2011). Contexts of Aging: Assessing Evaluative Age Stereotypes in Different Life Domains. The Journals of Gerontology: Series B, 66B(5), 547–556.

Kornadt, A. E., Kessler, E. M., Wurm, S., Bowen, C. E., Gabrian, M. & Klusmann, V. (2019). Views on ageing: a lifespan perspective. European Journal of Ageing, 17(4), 387–401.

Forschung
Praxis

Kommentar

Sehr geehrte Frau Paterra, sehr eindrücklich. Ich finde den Artikel sehr interessant und wichtig was heraus gekommen ist. Es zeigt wieder einmal mehr wie die Einstellung das Leben beeinflusst in physischer Hinsicht. Vielen Dank für diesen Artikel. Freundliche Grüsse, C. Braunschweiger

Sehr geehrter Herr Braunschweiger,

auch im Namen von Frau Paterra herzlichen Dank für Ihren Kommentar. In der Tat zeigt die Arbeit sehr gut, dass ein rein negatives Altersbild nicht zuletzt aus Sicht vieler älterer Menschen oft zu kurz greift und nicht die Vielfalt der Ansichten über das (eigene) Altern widerspiegelt. Dass man auch auf der Basis von Alltagssprachgebrauch und Textquellen Informationen über Vorstellungen zum Altern herauslesen kann (und nicht immer nur standardisierte Fragebögen hierzu braucht), ist eine weitere Erkenntnis, die aus unserer Sicht spannende Möglichkeiten für die Forschung aber auch die Praxis bietet, um alltagsnah und auch dann, wenn eine formale Befragung nicht gut möglich ist, Erkenntnisse zu gewinnen.

Freundliche Grüsse, Christina Röcke

Interessante Studie. Es ist sicher sinnvoll, sich mit den eigenen Altersbildern schon früh zu befassen.

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