Als Methode der Selbsterfahrung werden Alterssimulationsanzüge in Aus- und Weiterbildung genutzt. Dr. Gundolf Meyer-Hentschel gilt als Erfinder des ersten Altersanzugs im Jahr 1994. Er schildert, wie es zu dieser Entwicklung kam, was sein AgeMan simuliert und wo der Anzug eingesetzt wird.

Seit über 30 Jahren wird die Methode der Selbsterfahrung durch Alterssimulation in der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen, Ärzt*innen und freiwilligen Betreuungspersonen eingesetzt. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass eine aktive Auseinandersetzung mit konkreten Erlebnissen Betroffenheit auslöst und nachhaltiges Lernen fördert. Dies gilt vor allem, wenn man durch Selbsterfahrung mit einer Lebensphase konfrontiert wird, die man selbst noch nie erlebt hat, z.B. hohes Alter.

Genau darum geht es, wenn Pflegefachpersonen oder Freiwillige mit einem Altersanzug in die Welt betagter Personen eintauchen. Sie können dabei Erfahrungen sammeln aus einer ihnen noch unbekannten Lebensphase, die für viele betagte Menschen aber Realität ist. Sie können erleben, wie Alltagsaktivitäten, z.B. das Zuknöpfen einer Bluse, zu Herausforderungen werden. Sie spüren die Frustration, wenn das Aufstehen aus einem Sessel mühsam wird. Und sie erleben, wie Altersschwerhörigkeit Gefühle der Isolation auslösen kann.

Wie alles begann

Der Impuls zur Entwicklung des ersten kompletten Alterssimulationsanzugs entstand 1993 durch ein Projekt für Coop Schweiz. Coop hatte sich zum Ziel gesetzt, ihre Verkaufsstellen seniorenfreundlicher zu gestalten. Eine der ersten Massnahmen waren Seminare für Marktleiterinnen, die meine Frau Hanne und ich durchführen durften. Mit grossem Enthusiasmus schilderten wir neueste Erkenntnisse der Gerontologie über das Altern und das Verhalten betagter Menschen. Ergebnis: Die Teilnehmenden reagierten eher gelangweilt. Wir überlegten, wie wir den Lernstoff eindrücklicher und spannender machen könnten. Dabei entstand die Idee eines Anzugs, mit dem man das Alter selbst erleben kann. Nach einigen Monaten war der Prototyp fertig, und Anfang 1994 startete in Olten der erste interaktive Workshop unter Einsatz von zwölf Altersanzügen. Die Begeisterung der teilnehmenden Marktleiterinnen war überwältigend. Durch das Erleben der Einschränkungen des Alters sprudelten grosse Mengen an Ideen, wie man Verkaufsstellen, Regale, Produktplatzierungen, Kassenzonen usw. kundenfreundlicher gestalten könnte.

Dies gab uns das Gefühl, mit unserem ersten Altersanzug etwas sehr Nützliches entwickelt zu haben. Nach einer Pressemeldung der Deutschen Presseagentur am 10. Mai 1994 kamen viele Unternehmen auf uns zu: Detailhandelsunternehmen, Automobilhersteller, Verpackungsentwickler. Mit etwas Verzögerung meldeten sich dann Universitäten, Hochschulen, Pflegeschulen. Das Interesse an unserem Altersanzug AgeExplorer war riesengross. Seit dieser Zeit führt unser Institut jedes Jahr viele Seminare und Fortbildungsveranstaltungen durch.

Die Nachfrage wuchs

Ab 2010 häuften sich die Anfragen nach der Möglichkeit, einen Altersanzug zu kaufen. Wir reagierten darauf mit der Entwicklung einer robusteren Variante unseres Premium-Modells AgeExplorer®. Es entstand der AgeMan®. 2012 gründete unser Institut, das Swiss Age Explorer Institut, ein Tochterunternehmen in Deutschland, die Age Suit Germany GmbH. Hintergrund war es, die Produktion in einem EU-Land anzusiedeln, weil dies die Materialbeschaffung erleichterte. Zudem wollten wir das niedrigere Lohnniveau im Vergleich zur Schweiz nutzen, um den Preis des AgeMan bei hoher Qualität tief halten zu können.

Die «Arbeitsteilung» zwischen unseren beiden Altersanzug-Modellen sieht aktuell so aus: Der rote AgeExplorer® wird bei Anlässen eingesetzt, die von unserem Team durchgeführt werden, z.B. regelmässige Seminare am Schulungszentrum Gesundheit – SGZ Campus. Den grau-roten AgeMan® können Bildungsinstitutionen und Einrichtungen der Langzeitpflege käuflich erwerben und in eigener Regie einsetzen.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Anbietern, die meiner Idee gefolgt sind. Das macht mich stolz, weil es mir zeigt, wie nützlich sie war. Und es spornt mich an, meine Altersanzüge ständig weiter zu entwickeln, um eine bestmögliche Preis-Leistungs-Relation bieten zu können.

So funktionieren die Alterssimulationsanzüge AgeExplorer bzw. AgeMan

Gehördämpfer reduzieren den Schalldruck und filtern hohe Frequenzen, die bei Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) typischerweise nicht mehr oder nur noch schwach gehört werden.

Ein Visier simuliert alterstypische Einschränkungen des Gesichtsfelds in vertikaler und horizontaler Achse. Eine Spezialfolie gibt einen Eindruck von Veränderungen des Farbensehens, vor allem im kurzwelligen Bereich (grün, blau). Eine horizontale Zweiteilung des Visiers simuliert im oberen Bereich leichte Einschränkungen der Fernsicht, im unteren Bereich eine starke Einschränkung des Sehens im Nahbereich (Presbyopie). Als Zubehör gibt es Simulationsbrillen, die weitere altersbedingte Seheinschränkungen darstellen. Sie eignen sich u.a. zur Sensibilisierung für Sehbehinderungen in Pflegeeinrichtungen.

Eine Halswirbelbandage vermittelt einen Eindruck von nachlassender Beweglichkeit der Halswirbelsäule: Drehen des Kopfes, Neigungen nach vorne und hinten sowie seitwärts sind eingeschränkt.

Gelenkbandagen an Ellenbogen und Knien lassen verringerte Beweglichkeit der Gelenke und veränderte Grobmotorik erleben.

Gewichte an Hand- und Fussgelenken oder integriert in den Anzug des AgeMan simulieren nachlassende Kräfte in Armen und Beinen. Eine Gewichtsweste (ca. 10 kg) reduziert die Ausdauerbelastbarkeit und lässt das Aufstehen aus Sesseln oder das Steigen einer Treppe zu anstrengenden Tätigkeiten werden.

Schliesslich gibt es Handschuhe, die einen Eindruck von nachlassender Fingerfertigkeit geben und nachlassende Kraft erleben lassen, weil ihr glatter Stoff es erschwert, seine Kräfte wirksam einzusetzen.

Was Alterssimulationsanzüge wie der AgeMan bei Teilnehmer*innen von Seminaren bewirken, zeigen nachfolgende Stimmen.

«Alles wird schwieriger, mühsamer, man fühlt sich schwerfällig und unsicher. Jetzt habe ich noch mehr Verständnis dafür.»

«Jetzt kann ich mir gut vorstellen, warum sich einige ältere Bewohnende zurückziehen in ihre Räume oder auch in ihre Welt: Sie fühlen sich aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen isoliert bzw. erschöpft und das wiegt stärker als ein Interesse, am Geschehen um einen herum aktiv teilzunehmen.»

«Ich werde jetzt mit Sicherheit mehr Verständnis und Geduld für Ältere aufbringen, die sich unsicher fühlen, langsamer agieren oder aus Sicht Jüngerer ungeschickt handeln.»

Weiterführende Links:

Grundlegende Informationen zum Thema Alterssimulationsanzug: Wissenschaft, Geschichte, Typen von Anzügen, Videos, Links
https://alterssimulationsanzug.com/

Effects of age simulation suits on psychological and physical outcomes: a systematic review
https://doi.org/10.1007/s10433-022-00722-1

Wie sinnvoll ist Alterssimulation?
https://agesuit.com/wie-sinnvoll-ist-alterssimulation/

Funktionseinschränkungen der Sinne im Alter
https://www.aerzteblatt.de/archiv/220424/Funktionseinschraenkungen-der-Sinne-im-Alter

Gedanken eines Altersforschers zum Altern und zum Umgang mit alten Menschen
https://agesuit.com/gedanken-eines-altersforschers-zum-altern-und-zum-umgang-mit-alten-menschen/